Hochkonzentriert fahre ich im Mietauto die irische Westküste entlang. Durch das ungewohnte Linksfahren vergesse ich fast, aus dem Seitenfenster zu blicken. Abwechselnd fahre ich hier am insgesamt 2600 Kilometer langen Wild Atlantic Way nämlich durch zerklüftete Küstenlandschaften, an sattgrünen Feldern mit Schafherden und bezaubernden Orten vorbei. Uralte Monumente, deren Ursprung sich im Nebel der Zeit verliert, säumen den Weg, der immer wieder den Blick auf den Ozean freigibt. Noch ein paar Minuten die schmale Küstenstraße entlang und ich habe mein Ziel erreicht. Ich soll regenfeste Kleidung mitbringen und Hunger, hieß es im Briefing. Denn den heutigen Lunch werde ich mir gemeinsam mit meinem Guide direkt aus dem Meer fischen: Algen.
Festmahl aus dem Meer
Der Streedagh Beach im Nordwesten des irischen Wild Atlantik Way zeigte sich bei meinem Besuch nicht von seiner einladendsten Seite. Es ist regnerisch und kalt, der Sturm hat unzählige Meerespflanzen an den Strand gespült. “Ein Festmahl!” ruft meine Begleitung Prannie Rhatigan und wirft begeistert die Hände in die Luft. Denn gemeinsam mit der irischen Ärztin und Algenexpertin habe ich an diesem Vormittag genau das vor: die glibbrigen Meerespflanzen ernten und essen. Gemeinsam mit Hund Bear streifen wir also über den regnerischen Strand und genießen das typisch irische Wetter so gut es geht.
Ein Universum im Kleinformat
„Rote Algen unterscheiden sich genetisch so sehr von grünen, wie wir von einem Vogel“, erklärt mir Dr. Prannie Rhatigan begeistert, als wir gemeinsam den stürmischen Strand abkämmen. „Ihre Zusammensetzung ist faszinierend, richtige kleine Universen stecken da drinnen. Das macht Algen so nährstoffreich, dass man sie am besten täglich in Mahlzeiten integriert“, fügt sie hinzu, während sie mir einen „Energieball“ aus Datteln, Nüssen und Algen reicht.
Die Ärztin und Seetang-Expertin hat es sich bereits vor 23 Jahren zur Aufgabe gemacht, auf das große Potenzial dieser Meerespflanzen aufmerksam zu machen. „Die Nährstoffe in Algen, oder Seetang, wie man es allgemein zusammenfasst, sind vor allem bei pflanzlicher Ernährung wichtig. Sie sind voller Mineralien, Vitamine, Ballaststoffe und Protein. Medizinische Studien deuten darauf hin, dass Algen deshalb präventive Effekte bei Herzkrankheiten, Entzündungen und Diabetes besitzen. Außerdem wachsen sie schnell, ohne viel Aufwand und sind vielseitig einsetzbar“, sagt Prannie und gibt mir ein Stück „Dillisk“, auf Irisch „Duileasc“ genannt, das sie kurz zuvor aus dem Meer fischte. Die Algenart war früher ein kostenloses und daher wichtiges Nahrungsmittel in Irland, ihre Ernte wurde zelebriert. Je nach Erntemonat variiert der Geschmack von fein-süßlich bis nussig. Aus Kelptang stellte man ein Pulver her, das durch seinen hohen Gehalt an Mineralien und Jod gegen Nährstoffmängel half. Noch heute ist Kelppulver als natürliches Supplement zu kaufen.
Algen essen leicht gemacht
Während ich eine sehr süßliche Alge zerkaue, blättere ich durch Prannies Booklet, das alle heimischen Arten genau beschreibt und anführt, wie man sie nachhaltig erntet. Damit sie schnell und gesund wieder nachwachsen können, darf man nur etwa ein Drittel abernten. Oder wie die Algenexpertin es formuliert: “Wir geben ihnen nur einen kleinen Haarschnitt an den Spitzen.” Ich vergleiche die wellige Oberfläche mit den Abbildungen im Booklet – eindeutig ein Zuckertang.
Algen sind vielfältig einsetzbar
Je nach Konsistenz der Alge, kann man sie roh essen, trocknen, dämpfen oder kochen. Zäh wie Leder, fein wie Salat oder knackig wie Essiggürkchen – nie hätte ich gedacht, dass Algen essen so interessant sein kann. Für meine Begleitung, die bereits zwei Kochbücher zum Thema veröffentlicht hat, ist das natürlich keine neue Erkenntnis. Während sie mir einen Reiscracker mit Seetang-Pesto und Walnüssen reicht, empfiehlt sie mir Rezepte wie „Spaghetti“ aus Riementang mit Tomatensauce, Baisertörtchen mit Zuckertang und Paprikasuppe mit getrocknetem Dillisk.
Durch ihr Meeresaroma und den umweltschonenden Anbau haben Algen das Potenzial, eine wirklich nachhaltige Alternative zu Fisch und Seafood zu sein. Einige Unternehmen, wie beispielsweise Cavi·art aus Dänemark, brachten bereits gesunde, täuschend echte Seafood-Alternativen auf den Markt. Und auch im Textilbereich gibt es vielversprechende Einsatzbereiche von Algen. Das Unternehmen Smartfiber stellt Stoffe mit Cellulosefasern aus wilden Braunalgen her, die bereits von FTC Cashmere oder Speidel eingesetzt werden.
Den ganzen Vormittag lang spazieren wir suchend und kauend über den Strand und ich lerne: Seetang ist so viel mehr als das i-Tüpfelchen einer Maki-Rolle. Während wir uns durch die verschiedensten Sorten probieren, frisch aus dem Meer, hat mich Prannie mit ihrer Begeisterung angesteckt. Als es zu regnen beginnt, atmet meine irische Begleitung tief ein. „Herrliches Wetter. Ich werde wohl noch schwimmen gehen“, sagt sie und meint es sogar ernst.