Dem Theologen Rainer Hagencord wird die Kirche immer fremder. Zu eng sind die Ansichten und zu weit der Weg in die moderne Gesellschaft. Weil die Kirche seiner Meinung nach die vergisst, die sich nicht wehren können, hat er 2009 das Institut für Theologische Zoologie in Münster gegründet. In diesem gemeinnützigen Verein klärt er u.a. Studierende, Lehrende und Schüler:innen über das Miteinander von Mensch und Tier auf. Und erklärt, warum wir Archen für die Zukunft brauchen.
Herr Hagencord, gerade wird man ja ständig mit den Gedanken an eine grünere und faire Zukunft konfrontiert. Was bedeutet für Sie Gerechtigkeit?
Dass wir alle Geschöpfe als gleichwertig ansehen. Wir haben vergessen, Tiere als Mitgeschöpfe zu sehen und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Wenn jedes Geschöpf seinen Lebensraum behält, dann geht es allen gut. Es gibt bereits Versuche, Tieranwält:innen zu ernennen. Wenn Wälder abgeholzt, neue Tierfabriken gebaut oder Meere leer gefischt werden, können diese Anwält:innen für Natur und Tiere eintreten. Außerdem müssen wir den Begriff Würde neu definieren. Aktuell fokussieren wir uns ja nur auf Menschen, die selbst entscheiden können. Aber wir sollten den Begriff ausweiten auf diejenigen, die selbst keine Stimme haben.
In einem Interview haben Sie mal gesagt, es wäre besser, viele kleine Archen zu bauen, anstatt auf die Politik zu hoffen. Wie würde das aussehen?
Das Archebild ist grundsätzlich sehr biblisch. Vor etwa einem halben Jahr gab es einen großen Artikel in der Süddeutschen Zeitung. Verschiedene Wissenschaftler:innen machten darin deutlich, wenn wir nicht ab morgen mindestens 40 Prozent der Lebensräume schützen, ist die Lebensgrundlage der Menschen verloren.
Nun gibt es drei Möglichkeiten: Wir können die Hände in den Schoß legen und sagen: „Nach uns die Sintflut!“, oder wir werden depressiv oder wir bauen Archen. Dort wo wir Lebensräume schaffen können, sollten wir das tun, um möglichst viele Arten zu retten und diese Areale durch Korridore verbinden. Bildung spielt dabei eine große Rolle. Wir müssen Noahmenschen ausbilden.
Indem wir Archen bauen und Lebensräume schaffen, setzen wir Zeichen der Hoffnung. Und wir verabschieden uns vom blauäugigen Optimismus, der alles auf technischen Fortschritt und die Politik setzt. Es ist zu spät um nur zu warten.
Ist Ihr Institut für Theologische Zoologie der Beginn einer Arche?
Ja, und es wird mir immer bewusster. Die Alarmglocken schellen immer lauter. 2008, als ich das Institut gründete, waren sie noch nicht so deutlich. Nach dem Prinzip der Arche arbeiten wir mit einem großem Netzwerk. Es gibt drei Lernorte: Mariengrund, den Kapuzinerklostergarten und den Zoo Münster. Hier schaffen wir Netzwerke, um Bildung und den Erhalt von Lebensräumen zu lehren und in den Vordergrund zu rücken.
Ist das Institut für sie ein Ort der Hoffnung?
Auf jeden Fall. Wir betreiben keine Katastrophenpädagogik, also schocken die Menschen nicht permanent mit Schlachthausbildern oder dem gerodeten Amazonas. Klar ist das Teil des Lernprozesses, aber in erster Linie wollen wir Räume schaffen, in denen sie aufatmen und die Kraft von Natur und Tieren erleben können. Mit dieser Erfahrung gehen sie nach Hause, in die Nachbarschaft und Gemeinden, um auch dort Archen zu bauen.
Was ist verkehrt an sogenannten Schockbildern?
Sie gehören dazu, aber sie wecken eine passive Abwehrhaltung, ein Gefühl, dass man eh nichts tun kann. Das wollen wir nicht. Die Leute sollen Geschmack auf Artenvielfalt mit allen Sinnen bekommen. Es ist ein Unterschied, ob ich mich vor den Rechner oder Fernseher setze oder ob ich in der Natur um das Haus Mariengrund bei unseren Eseln verweile und Luft schmecke, Gras taste und zur Ruhe komme. Es ist wichtig, dass die Menschen raus aus der digitalen Welt zurück in die Natur gelangen. Viele wissen ja gar nicht mehr, was eine Küchenschelle oder ein Dompfaff ist. Was kümmert es mich dann, wenn diese Arten aussterben. Hier muss man ansetzen.
Wie erleben Sie den allgemeinen Tenor in der Kirche?
Ich nehme Ungleichheiten wahr. Bei den Machthabern geht es eher um Machterhalt und Machtelite. In der Kirche stagniert das Bewusstsein um Ökosysteme und Nächstenliebe gegenüber Tieren. Es gibt zwei unterschiedliche theologische Gundströmungen, von denen die eine in der Folge einer neuen politischen Theologie das Leiden der anderen und die Compassion in den Mittelpunkt stellt und die andere ausschließlich das Seelenheil des Menschen. Erstere findet nur am Rande Gehör. Theologie muss sich auf das Leiden aller fokussieren, aber das geschieht nicht.
Weil es nicht interessiert oder weil es keiner schafft?
Es liegt an den Systemen. Diese sind seit Jahrzehnten dieselben und die kann man nicht so einfach umschalten. Eigentlich müssten alle Machthaber den Schrei der Erde hören und einen Masterplan schmieden. Archen bauen, Bildungssysteme verändern zum Beispiel. Das Thema muss ganz nach oben im Religionsunterricht und auch bei der Ausbildung der Theologen oder direkt im Gottesdienst eine Rolle spielen.
Wie stehen Sie als Theologe zu diesem Zwiespalt?
Es ist für mich eine große, innere Arbeit. Gleichzeitig aber sehr therapeutisch mit den Menschen zu arbeiten. Ich darf an einer Stelle agieren, an der ich hoffentlich etwas bewegen kann. Viele gehen nach den Kursen gestärkt nach Hause. Allerdings verliere ich manchmal selbst den Mut und muss auf mich achten. Wenn ich im Fernsehen Beitrage über den Niedergang der Ökosysteme oder das Elend in den Schlachthöfen sehe, darf ich das nicht so nah an mich heranlassen. Das macht mich traurig.
Denken Sie viel darüber nach, wie sich die Pandemie auf unser Verhalten gegenüber Tier und Natur auswirkt?
Ich hoffe, dass aus dem Elend der Pandemie Konsequenzen gezogen werden. Radikaler kann unser Verhalten gar nicht infrage gestellt werden als jetzt. Der nächste Virus wird kommen, weil sogenannte Zoonosen ihren Ursprung in der industriellen Tierhaltung haben, oder dort, wo wir den Tieren gnadenlos Lebensräume nehmen. Corona ist ja noch gnädig, weil nicht alle daran sterben. Wenn ein neuer Virus direkt den Wirt, also uns, angreift, sind wir weg. Und wissen Sie, was alle anderen überlebenden Arten dann tun werden?
Was?
Aufatmen, dass wir endlich weg sind.
Wie sähe Ihre perfekte Welt aus?
Die gibt es gar nicht. Ich glaube, die Erzählung der Arche Noah oder Visionen des Friedens im Garten Eden haben Kraft, eben weil wir Visionen brauchen. Ich genieße einen Nachmittag bei meinen Eseln, wenn ich den Frühling beobachte und die Hummeln summen höre. Das ist dann meine Version von Frieden und somit fast perfekt. Im Bezug auf die Kirche würde das für mich bedeuten, dass nicht mehr im Fokus steht, wer wo predigen darf oder wer mit wem feiert. Solche festgefahrenen Systeme blockieren viel Neues.
Woran denken Sie da zum Beispiel?
2017 gab es in Münster einen Katholikentag mit dem Thema „Suche den Frieden“. Die ökologische Frage stellten sie aber gar nicht. Als ich den Verantwortlichen darauf ansprach, bekam ich nur ein müdes Lächeln. Wahrscheinlich laufen wir 2030 mit Atemschutzmasken durch eine Steppenlandschaft und die Herren fragen sich immer noch, ob denn auch Geschiedene Sakramente empfangen sollten.
Ist die Kirche dann noch der richtige Ort für Sie?
Wenn sich mir diese Frage aufdrängt, erinnere ich mich daran, wie ich als Theologe angefangen habe, vor meinem Studium der Biologie und Philosophie. Für mich rückt dann der therapeutische Ansatz wieder in den Vordergrund. Aufklärungsarbeit ist wichtig und die übernehme ich gerne. Wenn es eine göttliche Wirklichkeit gibt, dann steht sie mit allem was lebt in Verbindung. Herkömmliche Theologien, die einen despotischen Anthropozentrismus, also die alleinige Herrschaft nur eines Oberhaupts, verfolgen, sind nichts mehr für mich. Ich fokussiere mich auf neue Ansätze.
Info:
Für die Würde der Tiere hat Dr. Rainer Hagencord, Theologe und Biologe, 2009 das Institut für Theologische Zoologie (ITZ) in Münster gegründet (heute ein gemeinnütziger Verein – ITZ e. V.). Die Entwicklung von Bildungsmaterialien für Pädagogik und die Vorbereitung auf die Kommunion sowie die Vermittlung von Erfahrungswissen und Handlungskompetenz in Seminaren und Workshops bilden einen Schwerpunkt. Darüber hinaus setzt sich das Institut in Wissenschaft und Forschung für einen Perspektivwechsel in der Mensch-Tier-Beziehung ein. Der ITZ e.V. arbeitet unabhängig und spendenbasiert.