„Ohne Autismus gäbe es das Silicon Valley nicht. Und auch Einstein, Mozart oder Tesla wären heutzutage wahrscheinlich auf dem autistischen Spektrum“, sagt Temple Grandin in ihrem TED-Talk zum Thema „Die Welt braucht alle Arten des Denkens“. Die Aktivistin setzt sich seit Jahrzehnten für mehr Aufklärung über diese sogenannte Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ein und ist sich sicher: die Welt braucht sogar Menschen mit diesen besonderen Fähigkeiten. Betroffene Personen haben durch ihre spezielle Wahrnehmung ein außerordentlich gutes Empfinden für Details, die andere übersehen. Heute Dozentin für Tierwissenschaften an der Colorado State University, ist Temple seit den 70er-Jahren die führende Expertin für Entwurf und Verbesserung von Rinderzuchtanlagen und Schlachthöfen, die den Stress der Tiere auf ein Minimum reduzieren. Die 75-jährige ist das beste Beispiel dafür, wie viel autistische Menschen mit der richtigen Förderung erreichen können.
Denken als Google Bildersuche
Temple Grandin litt als Kind an heftigen Wutanfällen und war bis zum Alter von dreieinhalb Jahren non-verbal – etwas, das übrigens 25-30% aller autistischen Menschen betrifft. Den ärztlichen Rat, Temple in ein Heim zu geben, befolgten ihre Eltern glücklicherweise nie. Stattdessen investierten sie viel Zeit und Geld in die Förderung ihrer Interessen, stellten ihr eine Nanny zur Seite und ermöglichten ihr eine Ausbildung an Privatschulen. Dass ihre Eltern nie aufgaben, ermöglichte Temple schlussendlich, experimentelle Psychologie zu studieren und eine Doktorarbeit im Fach Tierwissenschaften zu schreiben.
Die Aktivistin beschreibt ihr Denken als Google-Bildersuche. Beim Überlegen kommen ihr nicht Worte, sondern detaillierte Bilder in den Sinn. Dieses visuelle Denken war eine große Hilfe bei ihrer Arbeit, da sie dadurch in der Lage war, sich in die Rinder hineinzuversetzen und quasi gemeinsam mit ihnen die Strecke bis zum Schlachter zu erleben. Wofür andere Menschen eine Virtual-Reality-Brille brauchen, reicht Temple ihre alltägliche Art des Denkens. Wo Firmen ein ganzes Gebäude abreißen wollten, entfernte sie lediglich eine wehende Fahne am Eingang und die Tiere wurden nachweislich ruhiger. „Autismus umfasst eine ganze Bandbreite von Eigenschaften“, erklärt sie in ihrem TED-Talk weiter und fügt ironisch hinzu: „Aber wo sind die Grenzen zwischen einem sogenannten ‚Nerd‘ und jemandem, der tatsächlich Asperger hat, also eine leichte Form des Autismus?“ Sie spielt damit auf beliebte Serien wie „The Big Bang Theory“ oder „Sherlock“ an, die Autismus zwar mehr Aufmerksamkeit brachten, aber stark überzeichneten. Auch falsche Vorurteile wie die Unfähigkeit, Gefühle zu empfinden, wurden damit noch verfestigt.
Heldenhafter Einsatz für Autismus
Vorurteile, mit denen auch Christof Goetz aufräumen möchte. Mit seinem Start-up Brainhero erleichtert er mit seinem Team erfolgreich die Therapie von Kindern mit Autismus – und das von Zuhause aus. Den Anstoß für dieses Projekt gab Christofs Tochter, die selbst von Autismus betroffen ist. Wir haben mit dem Österreicher über Klischees, Geschlechterungleichheit in der Diagnose und den richtigen Umgang mit Betroffenen gesprochen.
FOGS: Lieber Christof, ich habe auf Social Media folgende Worte von betroffenen Angehörigen sehr oft gelesen: “Ich wünschte, jemand hätte mir gesagt, …” Ist die Aufklärung über Autismus immer noch nicht ausreichend?
Christof Goetz: Die Aufklärung findet stärker statt – wobei die Medien hier eine große Rolle spielen. Einige neue Filme und Serien der letzten Jahre nehmen das Thema auf, aber es wird meiner Meinung nach zu viel mit Klischees gearbeitet und zu wenig aufgeklärt, wie man mit einem solchen Menschen umgehen soll. Das ist aber das allerwichtigste.
FOGS: Wie kann man Menschen mit Autismus Konversationen erleichtern bzw. besser auf sie eingehen?
Christof Goetz: In dem man sich auf ihre Welt einlässt. Zum Beispiel, wenn jemand Disney-Figuren liebt, solltet ihr in diese Welt eintauchen, um dadurch in einen Dialog treten zu können. Das funktioniert erstaunlich gut, wenn man sich selbst darauf einlässt. Erst dann sieht man, was in einem solchen Menschen alles steckt.
FOGS: Fernab von Klischees aus dem TV: Gibt es Anzeichen, die mein Gegenüber zeigt, durch die ich merken sollte, dass er oder sie autistisch ist und ich dementsprechend interagieren muss?
Christof Goetz: Ja und zwar: Dinge sehr wörtlich nehmen; Schwierigkeiten beim Lesen und Interpretieren von Emotionen oder Gesichtsausdrücken; weniger Augenkontakt; Stress, wenn sich ein geplantes Ereignis verschiebt. Das sind alles Indizien, die aber nicht zwangsläufig Autismus sein müssen.
FOGS: Therapieplätze aller Art sind derzeit leider rar und mit langen Wartezeiten verknüpft. Wie sieht die Situation im Moment für Autismus-Patient:innen aus?
Christof Goetz: Dazu fällt mir eine Aussage von einem Experten aus dem Gesundheitsbereich ein, den wir vor der Gründung von Brainhero um Rat gefragt haben: „Wieso sollte eine Krankenkasse für einen neuen Ansatz bei Autismus zahlen, wenn sie heute auch bestehende Therapien kaum finanziell unterstützt?“ Das fasst die Situation gut zusammen und hat sich bis heute nicht geändert. Es gibt kein Geld in diesem Bereich. Es wird zwar mehr diagnostiziert, weil vermutlich durch Corona das Bewusstsein von psychischen Problemstellungen geschärfter ist, dennoch gibt es kaum Therapieplätze. In Summe ist die Situation für Industrieländer wie Deutschland und Österreich beschämend.
FOGS: Welche Möglichkeiten hat man derzeit?
Christof Goetz: Es gibt Schulen, die versuchen, das aufzufangen. Aber die Betreuung eines betroffenen Kindes benötigt oft eine 1:1 Unterstützung, die selten möglich ist. Ein für die Pharmaindustrie rentables Medikament gibt es nicht und Lösungsansätze sind sowieso komplexer, als eine Pille. Dabei sind aber ca. 2% aller Kinder und Jugendliche davon betroffen – keine kleine Zahl, wie ich finde. Viele betroffene Eltern gehen daher in Teilzeit, um auszugleichen und investieren ihr eigenes Geld für Therapien – auch für neue Ansätze wie Brainhero.
FOGS: Wo genau kann Brainhero ein von Autismus betroffenes Kind unterstützen?
Christof Goetz: Kinder sind in ihrer Entwicklungsphase sehr stark von ihrer Umwelt abhängig. Denn diese zeigt ihnen, wie sie die Welt erkunden und mit ihr interagieren können. Nachahmung, in der Psychologie auch bekannt als “Spiegeln”, spielt dabei eine große Rolle. Die Gehirnverbindungen von Kindern mit Autismus sind anders, weshalb ihnen diese Art der Nachahmung viel schwerer fällt. Allerdings ist “Spiegeln” enorm wichtig für die Entwicklung sozialer Fähigkeiten, die Kommunikation mit anderen und die Mitteilung der eigenen Gefühle und Bedürfnisse. Brainhero hilft durch ein medizinisch anerkanntes und zertifiziertes Neurofeedback-System dabei, bestimmte Gehirnverbindungen und -Schaltkreise zu stärken. Und zwar diejenigen, die für das soziale Nachahmungsverhalten, die soziale Interaktion und die Emotionserkennung verantwortlich sind. Damit schafft Brainhero durch eine verbesserte Verhaltensflexibilität und verbesserte Kommunikation eine Basis für weiterführende Maßnahmen. Brainhero eignet sich daher gut für die Überbrückung von Wartezeiten zu einem Therapieplatz.
FOGS: Bei ADHS sind Symptomatik und Diagnose ja bei Mädchen/Frauen ganz anders als bei Buben/Männern. Ist das auch bei Autismus so?
Christof Goetz: Bei Mädchen wird Autismus deutlich seltener erkannt, als bei Jungen. Das liegt nicht daran, dass es weniger Mädchen oder Frauen gibt, es liegt daran, dass man es bei ihnen nicht vermutet und daher auch nicht den Weg in eine Diagnose geht. Meiner Meinung nach können Mädchen oder Frauen leichter Symptome von Autismus kompensieren. Bei meiner Tochter hat der Weg von der ersten Vermutung bis zur Diagnose auch mehrere Jahre gedauert.
FOGS: Die wichtigste Frage zum Schluss: Mit welchem Vorurteil über Autismus möchtest du ein für alle Mal aufräumen?
Christof Goetz: Autistische Menschen haben keine Emotionen und wollen keine Freunde – das Gegenteil ist der Fall. Und leider sind sie zu oft alleine.
Auch Aktivistin Temple Grandin spricht in ihrem TED-Talk aus eigener Erfahrung von der Wichtigkeit eines Mentors oder einer Mentorin im Leben von autistischen Kindern. Nur so ließe sich Begeisterung für etwas entfachen und spezielle Begabung fördern. Neben der richtigen Therapie ist ein weiterer, essentieller Faktor Geduld. Es geht darum, mit Einfühlungsvermögen in die Welt autistischer Menschen einzutauchen und Muster zu erkennen. Und vielleicht lernt man dabei auch selbst viel Neues.
Titelbild: von Youssef Naddam via Unsplash