Nach einem stressigen Tag kuscheln wir uns aufs Sofa, machen die Lieblingsserie an, scrollen nebenbei durch TikTok und verdrücken eine Packung Chips. Endlich eine verdiente Me-Time. Doch richtig runterkommen können wir dabei dennoch nicht. Gedanken kreisen im Kopf, diffuse Sorgen plagen uns und das Gefühl, noch tausend Sachen erledigen zu müssen, ist ständig da. Wir fühlen uns schlecht – Entspannung ist doch nicht so schwer, oder? Der Drang, ständig zu funktionieren macht nicht mal vor dem Relaxen auf dem Sofa Halt. Das Problem, das dahintersteckt: Ein überlastetes Nervensystem.
Cortisol – Wundermittel und Bösewicht
Mit einem überlasteten Nervensystem geht oft auch ein Überschuss an Cortisol einher. Ein lebenswichtiges Hormon, das von den Nebennieren produziert wird und eine Vielzahl von wichtigen Funktionen im Körper reguliert. Es spielt eine Schlüsselrolle bei der Stressreaktion des Körpers, der Regulation des Blutzuckerspiegels, dem Stoffwechsel und vielen anderen physiologischen Prozessen. Eine der bekanntesten Funktionen von Cortisol ist seine Rolle im Kampf- oder Fluchtreaktionssystem des Körpers, auch bekannt als Stressreaktion. In Stresssituationen steigt der Cortisolspiegel im Blut an, was dazu beiträgt, dass der Körper mit erhöhter Energie und Aufmerksamkeit reagiert. Für unsere Vorfahren war das wichtig, vor allem wenn der Angriff eines Raubtiers drohte. Dieser Anstieg von Cortisol hilft, den Blutzuckerspiegel zu erhöhen, um dem Körper zusätzliche Energie zur Verfügung zu stellen. Obwohl Cortisol also eine Art Superheld in unserem Körper ist, kann ein übermäßiger oder chronisch erhöhter Cortisolspiegel gesundheitliche Probleme verursachen. Denn: Was früher der angreifende Säbelzahntiger war, ist heute der volle Terminkalender. Und der schleicht sich weitaus öfter an uns heran. Passend dazu ist ein Wort aktuell vor allem auf Social Media in aller Munde: Cortisol-Detox.
Gut versteckte Symptome
Permanente Reize durch Social Media Konsum, andauernd schlechte Nachrichten und zu hohe Ansprüche an sich oder sein Aussehen halten unser Stresslevel und damit den Cortisolspiegel permanent in der Höhe, oft ohne dass wir es merken. Ein überlastetes Nervensystem kann sich nämlich durch vieles bemerkbar machen. Wenn Ruhe kaum ohne Ablenkung durch TV, Handy und Co. auszuhalten ist, zum Beispiel. Man fühlt sich gereizt und dünnhäutig, was sich sogar in muskulärer Anspannung manifestiert. Diffuse Beschwerden, mit denen Allgemeinmediziner:innen meist nichts anfangen können, kommen dazu: Herzrasen, Libidoverlust, Kieferverspannungen, Magenschmerzen oder Zyklusbeschwerden.
Das nächtliche Aufwachen um etwa Vier Uhr morgens deutet auch darauf hin, denn dann beginnt die Nebennierenrinde Cortisol auszuschütten. Normalerweise geht das ganz langsam vonstatten, sodass man dann morgens ausgeruht erwacht. Aber ein Cortisol-Überschuss beschleunigt das Ganze, weshalb wir plötzlich schon Stunden davor hellwach sind. Ein Teufelskreis, denn natürlich führt das zu Stress, Sorgen und Müdigkeit, die wir mit zu viel Koffein bekämpfen wollen. Die Lösung, zumindest, wenn man auf Social Media hört: Cortisol-Detox, also eine Art Entgiftungskur für Stressauslöser.
Cortisol-Detox: Eine Frage des Gleichgewichts
Unzählige selbsternannte Coaches, Onlinekurse, Tipps und Tricks unter dem Hashtag #cortisoldetox geistern gerade durchs Netz. Hinter vielen stecken aber lediglich Verkaufsabsichten für Supplements oder Skincare-Produkte. Mit Cremes, Smoothies oder Pillen lässt sich diese körperliche Reaktion aber kaum bezwingen. Einige Studien deuten zwar darauf hin, dass bestimmte Vitamine und Mineralstoffe, wie Vitamin C und Magnesium, eine unterstützende Wirkung haben können, aber diese Ergebnisse sind noch nicht ausreichend belegt. Daher sollte man bei der Einnahme solcher Präparate vorsichtig sein. Cortisolüberschuss wird außerdem oft als die Ursache schlechthin für Übergewicht deklariert und passende Diäten als die Lösung dafür verkauft. Cortisol beeinflusst zwar den Stoffwechsel, aber ein chronisch überlastetes Nervensystem als Argument für diverse Diätmittel und Kuren zu vermarkten, ist dennoch keine Lösung.
Zurück in unseren Körper finden
Statt Diäten und kurzfristigen Ablenkungen brauchen Körper und Psyche genau das Gegenteil: Mehr Aufmerksamkeit. „Wir ignorieren oft über Wochen diffuse Schmerzen oder Beschwerden und fragen uns dann schließlich, warum der Körper keine Lust mehr hat, richtig zu funktionieren“, sagen Pia und Anja von Body&Mind. Die Therapeutinnen und Mentaltrainerinnen helfen Menschen, sowohl online als auch in Präsenz ihre chronischen Beschwerden und diffusen Symptome in den Griff zu bekommen. Die Heilung chronischer Krankheiten können wir zum Teil nämlich alle selbst in die Hand nehmen, so das Kredo der beiden Expertinnen. Mit ihren Therapieplänen nehmen sie Patient:innen an der Hand und gestalten gemeinsam individuelle Maßnahmen. Denn viel zu oft tun wir vermeintlich entspannende Dinge, die aber das Gegenteil bewirken.
Ist unser Nervensystem überlastet, neigen wir beispielsweise zu stundenlangen Netflix-Marathons auf dem Sofa oder dem sogenannten „Doom Scrolling“ auf Instagram und Co. Die Ironie dabei: Obwohl viele von uns erstmals durch Social Media von Begriffen wie Cortisol-Detox erfahren, sind sie ein großer Teil des Problems. „Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und der Selbstoptimierungswahn wird uns speziell in sozialen Medien vorgelebt. Wir haben das Gefühl immer funktionieren zu müssen, vernachlässigen dadurch aber unseren Körper und ignorieren Warnsignale“, sagt Pia. Die vielen Bildfolgen, Reize und das Blaulicht der Bildschirme erfordern einen Ausgleich, am besten in der Natur, den sich aber viele zeitlich nicht leisten können oder wollen. Um aus diesem Teufelskreis rauszukommen, braucht es aber keine komplizierten Übungen oder teuren Nahrungsergänzungsmittel – wir müssen lediglich einen der wichtigsten Nerven unseres Körpers stimulieren.
Superheld Vagusnerv
Der Vagusnerv oder auch Parasympathikus verläuft vom Gehirn bis in den Bauchraum, teilt sich im Körper auf und versorgt die inneren Organe so mit Reizen. Er ist der größte und wichtigste Nerv des autonomen Nervensystems und dient außerdem der Entspannung und der sozialen Verbundenheit. Therapieformen wie Atemübungen, Singen, Tanzen, Meditation oder spezielle Körperübungen stimulieren diesen wichtigen Helfer. Über einen längeren Zeitraum kontinuierlich ausgeführt, können wir uns damit in einen Zustand der sogenannten „ventral-vagalen“ Verbunden bringen und somit entspannen. „Symptome eines überlasteten Nervensystems werden damit gelindert und ein erster großer Schritt in Richtung Genesung geschaffen“, so Pia. Wir können uns damit quasi selbst aus dem Zustand befreien, permanent von einem Säbelzahntiger verfolgt zu werden. „Das Ziel ist eine Balance: Nach stressigen Phasen müssen wir auch wieder runterfahren können, um uns innerlich entspannt zu fühlen.“
Sich selbst helfen
Wie also können wir uns selbst dabei helfen, nach stressigen Phasen wieder zu entspannen – also das Cortisol-Detox zu starten? Die beiden Expertinnen nennen Dinge, die sich gut umsetzen lassen, Spaß machen, aber viel zu oft vergessen werden. „Viel Zeit in der Natur verbringen, meditieren, leichte Bewegung wie Yoga. Wieder kreativ werden, malen, singen, schreiben“, so Pia und Anja. Die positiven Effekte von sozialem Kontakt mit Menschen, die uns guttun, sind dabei auch nicht zu unterschätzen. Gesundes, selbst gekochtes Essen, das auf pflanzlichen Produkten, Ballaststoffen und Proteinen basiert, unterstützt dabei ebenfalls. „Und natürlich spezielle Übungen für den Vagusnerv. Das alles sind aber keine Schnell-Maßnahmen, die man einmal macht und dann ist wieder alles wie davor. So ironisch es auch klingt: Bei einem überlasteten Nervensystem muss man konstant daran arbeiten, sich wieder entspannen zu können.“ Oft sind Workshops wie jene von Body&Mind eine große Unterstützung dabei.
Denn, so Pia und Anja, ein überlastetes Nervensystem sollte nicht auch noch mit strengen Cortisol-Detox-Maßnahmen und Diäten gestresst werden. Viel eher müssen wir lernen, uns selbst wieder mehr Empathie und Liebe zu schenken.
Polyvagal-Übung von Body&Mind:
Mache es dir im Sitzen gemütlich, entspanne die Schultern und schließe die Augen.
- Reibe deine Hände flächig aneinander bis sie warm sind
- Lege die Handinnenflächen auf die geschlossenen Augen und senke
den Kopf leicht in deine Hände, verweile für einige Sekunden - Richte dich wieder entspannt auf
- Achte auf deinen Atem und nimm diesen wahr
- Atme auf 4 durch deine Nase in den Bauch ein und auf 6 durch den
Mund mit gespitzten Lippen wieder aus. Wiederhole dies mehrmals - Massiere mit beiden Händen deine kompletten Ohren durch
- Streiche die Kiefermuskulatur von oben nach unten aus (seitlich der
Wangen, kurz vor dem Ohransatz) - Tippe mit zwei Fingern ganz langsam mit einem ruhigen Takt auf deine leicht
gespitzten Lippen - Streiche mehrmals sanft deinen Hals flächig seitlich und mittig aus
- Neige den Kopf zur rechten Seite und schaue dabei für 10 Sekunden nach
links oben, im Anschluss für 10 Sekunden nach rechts unten.
Neige den Kopf zur linken Seite und schaue dabei für 10 Sekunden nach
rechts oben, im Anschluss für 10 Sekunden nach links unten.
Wenn es dir schnell schwindlig wird, starte mit 5 Sekunden. Die Übung wird
nach mehreren Wiederholungen immer einfacher - Kreise deine Schultern mehrmals sanft nach hinten. Schließe die Augen, umarme dich selbst und wiege von links nach rechts und im Anschluss leicht vor und zurück. Streiche beide Arme sanft aus
Wie fühlst du dich jetzt?