Die Standardisierung von Kleidergrößen wurzelt im Aufkommen der ersten Kaufhäuser Mitte des 19. Jahrhunderts. Divers waren die Konfektionsgrößen, die damals entwickelt wurden nicht. Schließlich waren diese auf jene privilegierte Gesellschaftsschicht abgestimmt, die es sich leisten konnte, dem schlanken Schönheitsideal zu entsprechen. Heute scheinen Konfektionsgrößen nur noch als ungefähre Richtlinie zu gelten, die von Land zu Land verschieden ausfällt. Das in den 1980ern eingeführte „Vanity Sizing“ schummelt sogar absichtlich 1-2 Größen runter, um der Kundschaft zu schmeicheln.
Die größte Auswirkung haben Entwicklungen wie diese auf Menschen mit Kleidergrößen jenseits der 42. Als „Plus Sized“ oder zu Deutsch „Übergröße“ wird diese Kategorie bezeichnet, die meist sogar vom übrigen Sortiment separiert wird. Eine umstrittene Bezeichnung, die eine starke Trennung zwischen dem schafft, was im Allgemeinen als „normal“ gilt und der Gruppe der „anderen“.
Ausgeschlossen aus der Modewelt
Von einem Gefühl der Zugehörigkeit sind Betroffene aktuell meilenweit entfernt. Stylistin Michaela Leitz-Aslaksen ist Expertin für Size Inclusive Fashion und kann das bestätigen: „In den Medien wird viel Curve-Washing betrieben. Und trotzdem kann man ab Größe 44 nicht einfach vor Ort einkaufen, nicht einmal in großen Städten.“ Bieten Modemarken ein erweitertes Größenangebot an, ist dieses meist nur online erhältlich, klein und unmodisch, oder versteckt im letzten Winkel des Stores.
Diese Exklusion von der Gesellschaft bewirkt viel in betroffenen Personen. In ihrem Postfach hat Leitz-Aslaksen regelmäßig Konversationen mit Frauen, die dadurch das Gefühl nicht loswerden, schöne Mode nicht wert zu sein. „Uns wird vermittelt, dass man uns nicht im Laden sehen möchte. Nach wie vor haben Personen mit größerer Konfektionsgröße deshalb einen Kleiderschrank voller Kompromisse“, sagt sie. Liegt es also nur an falschen Schönheitsidealen oder ist Konfektionierung auch ein technisches Problem?
Schwierige Rechenaufgabe
Beim Entwurf eines Kleidungsstücks gilt seit vielen Jahrzehnten Größe 36 als Mittelmaß, im High Fashion Bereich Größe 34. Dabei zeigen Statistiken, dass das schon lange nicht mehr dem Bevölkerungsdurchschnitt entspricht. Die Passform kann bis zu einem gewissen Grad hochgerechnet werden, um das Schnittmuster anzupassen. Schwieriger wird das beispielsweise von 36 auf 46. Wird das Schnittmuster zu sehr skaliert, verschieben sich die Proportionen. Viele Marken produzieren deshalb nur bis zur Größe 42, weil danach neu gradiert, also ausgemessen werden müsste.
Größere Körper können außerdem sehr unterschiedlich proportioniert sein. Es bräuchte also mehrere Fitting-Models und schlussendlich auch mehr Stoff pro Kleidungsstück. Und Mehraufwand kostet Zeit und Geld. Ein schwaches Argument, sieht man sich die wachsende Zielgruppe dafür an. Rihannas Lingerie-Label Savage X Fenty produziert beispielsweise bis Größe 2XL und zeigt dies auch an realistischen Models. Der Wert des Unternehmens stieg letztes Jahr auf 270 Millionen US-Dollar. 12 Millionen US-Dollar erwirtschaftete die Online-Boutique 11 Honoré, die u.a. Kleidung von Designerlabels jenseits der 42 anbietet.


Eine Frage der Perspektive
Für Norah Joskowitz war es von Anfang an klar, dass ihr Modelabel Valle ō Valle größeninklusiv sein soll. Zum Unwillen der Modeindustrie, jenseits der Größe 42 zu produzieren, findet sie klare Worte: „Wir können entweder immer wieder Ausreden finden, oder es als unsere Aufgabe betrachten, daran zu arbeiten. Für mich bedeutet Fairness: Wenn zwei Menschen in unterschiedlichen Körpern das Gleiche tragen, sollen sie dafür auch das Gleiche zahlen.“ Beim Stoffverbrauch bedient sich die Designerin einer sogenannten Mischkalkulation. Dabei wird der durchschnittliche Stoffverbrauch errechnet und anhand dessen ein fairer Preis kalkuliert.
Fair Fashion mit Aufholbedarf
Ein weiteres Problem ist, dass gerade Fair-Fashion und Eco-Modelabel in Sachen Size Inclusivity nachhinken. „Es gibt sowieso kaum Marken die inklusiv sind und wenn, dann sind es leider oft Fast-Fashion-Giganten”, bestätigt Expertin Michaela Leitz-Aslaksen. Für kleine Fair-Fashion-Labels, die größeninklusiv produzieren, ist es in der lauten Modeindustrie schwer, Aufmerksamkeit zu bekommen. Als Vorzeigebeispiele nennt sie das deutsche Label SÜPERB, das in Hamburg schneidert und Größen von 40 bis 54 anbietet. Das Label Inan Isik ist eine der liebsten europäischen Marken der Stylistin. Nachhaltige, luxuriöse Kleidung ist hier bis Größe 54 erhältlich. Loud Bodies aus Rumänien schneidern nicht nur in den Größen XXS bis 10XL, sondern bieten auch kostenfreie Maßanfertigung.
Gänsehautmomente
Ob wir es wollen oder nicht: wir sind alle Teil der Modewelt. Und das Gefühl, nicht in die Norm zu passen, kann zermürbend sein. Ob man sich nun mit Kleidergrößen jenseits der 46 nach aktuellen Trends kleiden möchte oder mit Größe 40 nach einem passenden Bikini sucht. „Ich werde nie eine tränenreiche Begegnung mit einer Kundin vergessen. Sie bewunderte einen Print von mir und war sich sicher, dass ihr nichts aus dem Sortiment passen würde“, erinnert sich Norah Joskowitz mit Gänsehaut. „Als ich sie sanft vom Gegenteil überzeugte, wusste ich, wieso sich jeder Schritt dieses Weges gelohnt hat. Ich denke an all die wundervollen Menschen, die sich gesehen fühlen. Denen ich das Gefühl gebe, dass sie dazu gehören und dass ich Mode für sie machen möchte.“


Ein langer Weg bis zur größeninklusiven Mode
Größeninklusivität, also die gleiche Kleidung in möglichst allen Konfektionsgrößen anzubieten, anstatt sie vom sogenannten „normalen“ Angebot zu trennen, ist also nicht nur eine Modeerscheinung – sie ist eine Bewegung und erfordert Aktivismus. Denn Inklusionsversuche von Medien und Modeindustrie sind oft nur schöner Schein, wie Designerin Norah Joskowitz aufzeigt: „Die Repräsentation in dem Bereich wird geschönt. Wenn man dicke Menschen zeigt, dann oft mit normschönen Proportionen oder dünnen Gesichtern. Es gehört einfach nicht zur Norm. Und während ich das schreibe, kann ich es selbst kaum glauben, wie diskriminierend und herablassend unsere Branche eigentlich ist.“
Die Bereitschaft, Menschen mit Größen abseits der 42/44 zu zeigen, müsse ab sofort stetig wachsen, meint auch Michaela Leitz-Aslaksen abschließend: „Wie wollen wir sonst ein Vorbild für die nächsten Generationen sein, wenn wir es noch nicht einmal schaffen, dass sich alle von der Gesellschaft akzeptiert fühlen?“