Der Scheitel wird lichter, Geheimratsecken deutlicher und im Abfluss sammeln sich mehr Haare als sonst – eine Vorstellung, die vor allem bei Frauen Panik auslöst. Immerhin ist langes, dichtes Haar das gängige Schönheitsideal. Der Hashtag #hairloss führt auf Instagram derzeit über 3 Millionen Beiträge und auch auf TikTok erzählen tausende junge Frauen von ihrer #hairjourney zur Traummähne. Auch die Kosmetikindustrie reagiert: Teure Pflegeprodukte, Gadgets und Wundermittel sollen in Windeseile für dichtes, fülliges Haar sorgen. Aus der Angst, nicht perfekt zu sein, lässt sich immerhin viel Geld machen.
Meist stecken hinter dem Haarausfall aber temporäre Ursachen, die sich von selbst wieder regulieren. Wann man tatsächlich handeln sollte, klären wir im InterHaar Institut in Wien. Das Team rund um Dr. med. univ. Claudia Lercher und Leonardo Lercher zählt seit über 60 Jahren zu den führenden Haarinstituten in Europa. Nach einer genauen Anamnese samt gründlicher Kopfhaut- und Haaruntersuchung geht man hier der Hauptursache des Haarausfalls auf den Grund und kann mit individuell abgestimmten Therapien gezielt entgegenwirken. Welche Mythen sich ums Thema Haarausfall sonst noch ranken und wieviel Wahrheit dahintersteckt, erklärt uns Experte Leonardo Lercher im Interview.
FOGS: Herr Lercher, zwischen welchen Arten von Haarausfall muss man unterscheiden?
Leonardo Lercher: Haarausfall kann neben Stoffwechselstörungen auch von falscher Haar- und Kopfhautpflege kommen. Neben stressbedingten Haarausfall gibt es dann noch den medikamentös bedingten, der u.a. vom Absetzen oder Wechsel von hormoneller Verhütung kommen kann. Beide sind oft nur temporär und es ist kein Problem, 3-4 Monate abzuwarten, bevor man Gegenmaßnahmen setzt. Meist ist der Haarausfall nur kurzfristig und reguliert sich dann wieder. Bei einer Imbalance der Bakterienbarriere der Kopfhaut oder der Autoimmunerkrankungen wie kreisrundem Haarausfall muss man dagegen konkrete Maßnahmen setzen. Man sollte die Art des Haarausfalls aber nie in eine Schublade werfen, da es auch Kombinationen gibt. Es kann z.B. eine Mischung aus neuen Medikamenten sein, in Kombination mit Stress.
FOGS: Wann muss ich reagieren?
Leonardo Lercher: Die erste Devise ist: Ruhe bewahren. Dass Haare ausfallen ist normal. Jedes Haar durchläuft einen natürlichen Zyklus aus drei Phasen, bevor es ausfällt. Wenn der Haarausfall konstant ist und immer schlimmer wird, dann ist dieser Zyklus gestört. Man kennt sich selbst ja am besten. Wenn am Kopfpolster plötzlich sehr viele Haare liegen oder bei der Haarwäsche vermehrt ausgehen, merkt man das. Nach spätestens einem halben Jahr konstantem Haarausfall würde ich handeln.
Vorsorge ist immer die beste Sorge und wohlmöglich ist auch ein Nährstoffmangel Schuld. Am besten man startet mit einem Blutbild bei der Ärztin bzw. beim Arzt. Dann heißt es, die Ursache zu finden. Wir können dann den Haarzyklus von Innen wieder regenerieren und den Aufbau von der Wurzel an unterstützen, beispielsweise mit einer Soflaser-Therapie.
FOGS: Unterscheidet sich die Kopfhaut von der Gesichtshaut?
Leonardo Lercher: Die Kopfhaut ist dicker, weil sie unter anderem den Schädel schützen muss. Sie ist ausgestattet mit Follikeln, die Talgproduktion ist dadurch intensiver. Die Kopfhaut ist außerdem nicht so sensibel wie Gesichtshaut. Es sei denn, die Bakterienschicht ist gestört, dann kann man sehr wohl Hautirritationen oder Ekzeme entwickeln.
FOGS: Könnte man also jedes Produkt fürs Gesicht auch am Kopf anwenden?
Leonardo Lercher: Gewisse Produkte schon. Ich würde aber immer spezielle Kopfhautprodukte verwenden. Pure Wirkstoffe wie Hyaluronsäure oder Panthenol kann man verwenden, um die Bakterienbarriere der Kopfhaut wieder mit Feuchtigkeit zu versorgen. Retinolseren unterstützen die Zellregeneration, sollten aber in Maßen angewendet werden, so wie bei der Gesichtshaut auch. Öle wie Arganöl sind generell gut verträglich und feuchtigkeitsspendend. Die Frage ist aber immer, wozu ich solche Pflegeprodukte verwende. Gesunde Kopfhaut braucht keine spezielle Pflege. Bei öliger Kopfhaut würde ich auch nicht noch zusätzlich mit Ölen arbeiten.
FOGS: Gerade Rosmarinöl wird auf Social Media als Wundermittel gehypt.
Leonardo Lercher: Rosmarinöl ist leicht durchblutungsfördernd, ja. Aber man darf nicht erwarten, dass das Haarwachstum dadurch plötzlich angeregt wird. Es gibt keine direkten Studien, die das wissenschaftlich belegen. Es unterstützt und eignet sich gut als Pflege der Kopfhaut. Leidet man unter massivem Haarausfall, hilft aber leider kein Öl der Welt dagegen.
FOGS: Sind Kopfhautpeelings oder Massagebürsten ein Muss?
Leonardo Lercher: Nein, kein Muss. Es kommt drauf an, wie die Kopfhaut aussieht. Wenn man nicht weiß, wie man sie optimal anwendet, können solche Produkte auch schaden. Bei Schuppenflechte (Psoriasis) beispielsweise oder bei akutem Haarausfall würde ich dringend abraten. Gerade im nassen Zustand ist das Haar schwerer und elastischer. Übt man da zu starkem Druck aus, werden schwächere Haare aus der Basis gezogen. Massagebürsten fördern die Durchblutung, das kann man aber auch mit täglichem Kämmen und Bürsten erzielen, womit man weniger falsch machen kann.
FOGS: Sind teure Produkte wirklich besser?
Leonardo Lercher: Was besser ist, hängt von der Person ab. Es kann sein, dass jemand, der die günstigsten Produkte verwendet eine gesündere Kopfhaut hat, wie jemand, der sehr teure benutzt. Es kommt darauf an, wie man diese Produkte verträgt und ob sie geeignet sind für den Hauttyp. Bei unseren Behandlungen starten wir daher immer mit einer kurzen Kopfhautanalyse und fragen nach, wann die letzte Haarwäsche war. Danach stimmen wir die Behandlung individuell auf den derzeitigen Zustand der Kopfhaut ab.
Billige Produkte arbeiten oft mit nicht-wasserlöslichen Silikonen, da diese günstiger in der Herstellung sind. Davon würde ich generell abraten. Auch wenn hochpreisige Produkte generell auch hochwertigere Inhaltsstoffe verwenden, zahlt man manchmal viel mehr, nur wegen des Markennamens. Ich würde Produkte aus der Apotheke empfehlen, die sind immer eine gute Wahl für sensible Kopfhaut.
FOGS: Man liest immer wieder von Supplements, die das Haarwachstum beschleunigen. Ist das überhaupt möglich?
Leonardo Lercher: Ein Haar wächst ungefähr 1 cm bis 1,5 cm pro Monat, aber nie mehr. Es dauert daher bis zu einem Jahr, bis man einen möglichen Effekt von Supplements sehen könnte. Das nachkommende Haar kann davon schon in gewissen Maße verbessert werden, falls man davor Nährstoffmängel hatte. Aber Haare wachsen dadurch nicht schneller. Der Haarschaft, der bereits rausgewachsen ist, kann nur mit lokaler Pflege von außen weicher oder glänzender gemacht werden. Auch ein Koffein-Shampoo aus der Drogerie wird bei akutem oder erblich-bedingtem Haarausfall nichts bewirken. Die Dosierung des Koffeins ist dafür zu gering. Es ist daher unmöglich, dass die Inhaltsstoffe bis in die Haarwurzel gelangen und einen Effekt erzielen.
FOGS: Was halten Sie von Trends wie No-Poo?
Leonardo Lercher: Die Meinungen zum Trend, die Haare völlig ohne Shampoo zu waschen, sind geteilt. Meiner Meinung nach kann es zu Komplikationen kommen. Unser Stoffwechsel findet über die Kopfhaut statt, die Talgproduktion kann ebenfalls stagnieren. Bei Stress beispielsweise, oder im Sommer, wenn durch das Schwitzen vermehrt Ablagerungen auf der Kopfhaut entstehen. Symptome wie z.B. Juckreiz sind da bereits ein schlechtes Zeichen. Irgendwann ist nämlich der Punkt erreicht, an dem die Bakterienbarriere der Kopfhaut außer Kontrolle gerät.
Ich würde daher prinzipiell empfehlen, sich die Haare zwei bis drei Mal die Woche zu waschen, mit einem reinigenden Shampoo, das die Verschlackung und Ablagerungen wirklich löst. Man darf es nur nicht übertreiben mit dem Waschen, denn die Bakterienbarriere wird durch jedes Shampoo angegriffen. Diese Schutzschicht regeneriert sich im Normalfall aber immer wieder. Deshalb sollte man übrigens auch zumindest einmal im Jahr das Shampoo wechseln. Das kann eine andere Marke sein oder einfach nur eine andere Zusammensetzung.
FOGS: Wie eignen sich Haarseifen und feste Shampoos bei empfindlicher Kopfhaut?
Leonardo Lercher: Viele Naturkosmetik-Haarseifen schäumen nicht genug und gewährleisten dadurch keine optimale Reinigung. Wird überschüssiger Talg nicht entfernt, wirkt der Ansatz fettig und man wäscht umso öfter. Wenn man dann bereits jeden Tag wäscht, fetten die Haare nur umso schneller nach, weil der Körper ständig an der Schutzschicht arbeitet. Dann beginnt ein Teufelskreis.
FOGS: Ist lichterwerdendes Haar mit fortschreitendem Alter völlig normal?
Leonardo Lercher: Dass Haare mit der Zeit langsam weniger werden, ist aufgrund der Hormonumstellung im Alter ganz normal. Also kein Grund zur Sorge. Es ist ein schleichender Prozess. Wenn aber jemand mit 40 ganz plötzlich innerhalb von 1-2 Monaten vermehrt Haare verliert, sollte man Expert:innen aufsuchen.
FOGS: In letzter Zeit mehren sich Werbungen für Haarwuchsprodukte bzw. Produkte gegen Haarverlust. Merkt man in Ihrem Institut auch einen Anstieg an Konsultationen?
Leonardo Lercher: Ja, wir merken das tatsächlich auch. Gründe dafür lassen sich natürlich nicht zu 100% feststellen. Einige Patient:innen reagierten auf Krankheiten wie die Grippe oder Corona mit verstärktem Haarausfall, der länger anhielt. Der Körper reagiert auf den Infekt, indem er alles auf Hochtouren laufen lässt und Haare stehen in diesem Szenario ganz weit unten auf der Prioritätenliste. Sie werden also nicht mehr mit genügend Nährstoffen versorgt und fallen aus.
Aber noch viel mehr sehen wir den Grund für den vermehrten Haarausfall bei jungen Menschen in dem zu hohen Stellenwert, den perfektes Aussehen heute hat. Der Drang nach Perfektion, nach den vollen, langen Haaren von Celebrities oder Models ist oft nicht erreichbar. Das, aber auch psychische Erkrankungen lösen viel Stress aus.
FOGS: Gibt es einen Mythos, mit dem Sie gerne aufräumen würden?
Leonardo Lercher: Dass beim Abschneiden oder Rasieren die Haare dicker nachwachsen. Das hält sich hartnäckig, stimmt aber nicht. Man hat beim Rasieren keinen direkten Kontakt mit der Haarwurzel, das Haarwachstum kann damit also gar nicht angeregt werden. Man hat nur das Gefühl, weil das Haar gekappt wird und der Nachwuchs dicker wirkt.
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