Der Wind fegt eisige Böen über die Gletscherlandschaft, während die Sonne unbarmherzig auf die weiße Oberfläche brennt. Meter um Meter schwindet das Eis – ein stilles, aber unaufhaltsames Zeichen des Klimawandels. Die Gletscher der Welt stehen unter massivem Druck. Denn von der Antarktis bis in die Alpen schmelzen die gewaltigen Eismassen in einem Tempo, das Wissenschaftler:innen und Alpinexpert:innen gleichermaßen alarmiert. Um dem entgegenzuwirken, werden vielerorts Geotextilien eingesetzt, die das Eis abdecken und somit vor Sonneneinstrahlung schützen. Doch bisher bestehen diese Schutzmäntel meist aus erdölbasierten Kunstfasern, da sie besonders strapazierfähig und reißfest sein müssen. Das Problem mit Kunstfasern ist aber: sie setzen Mikroplastik frei, belasten damit die Umwelt und in weiterer Folge Tiere und Menschen. Ein neues Material, entwickelt aus nachwachsenden Rohstoffen, verspricht den Gletschern nun aber Schutz, ganz ohne diese Nebenwirkung. Die österreichische Lenzing Gruppe hat eine Lösung geschaffen, die nicht nur das Abschmelzen verlangsamt, sondern auch neue Maßstäbe in der Kreislaufwirtschaft setzt.

Nachhaltiger Gletscherschutz
Die Idee ist so einfach wie genial: Statt erdölbasierter Materialien setzt Lenzing auf Fasern aus Holz, die sich nach ihrem Lebenszyklus rückstandslos abbauen oder recyceln lassen. Für das österreichische Unternehmen ist das allerdings keine Neuheit. Die Lenzing Gruppe gehört bereits seit langer Zeit zu den führenden Anbietern von regenerierter Cellulose für die Textil- und Vliesstoffindustrien. Vor allem die TENCEL™-Produktfamilie mit Fasern wie Lyocell oder Modal erfreuen sich großer Beliebtheit in der Fair-Fashion. Die Chance ist also groß, auch im eigenen Kleiderschrank etwas aus dem Lenzing-Sortiment zu finden. Das Verfahren Holz in weiche Textilfasern zu verwandeln, verschwendet mittlerweile kaum Wasser und Energie. Auch auf giftige Chemikalien, die in die Umwelt gelangen könnten, wird verzichtet.
Aber zurück zum nachhaltigen Gletscherschutz. In einem Feldversuch am Stubaier Gletscher in Tirol wurde die neue Lösung erstmals getestet – mit Erfolg. Vier Meter Eismasse konnte man durch den Einsatz der nachhaltigen Geotextilien vor dem Schmelzen bewahren. 2023 folgte der nächste große Schritt: Die Ausweitung des Projekts auf alle touristisch genutzten Gletscher Österreichs. Das Konzept überzeugte nicht nur Umweltschützer:innen, sondern auch Fachkreise – und wurde mittlerweile mit dem renommierten Schweizer BIO TOP Award für Holz- und Materialinnovationen ausgezeichnet.


Vom Gletscher auf den Laufsteg
Da Lenzing einer der führenden Innovatoren in Sachen textiler Kreislaufwirtschaft ist, geht man nun sogar noch weiter. Haben die eingesetzten Geotextilien einmal ausgedient, bekommen sie ein zweites Leben als hochwertige Kleidung. Neben Lenzing stoßen auch noch Marchi & Fildi Spa, ein Spezialist auf dem Gebiet des mechanischen Recyclings, der Hersteller von Denimstoffen Candiani Denim und das avantgardistische Modestudio Blue of a Kind zum Projekt hinzu. Gemeinsam stellte man das erste Resultat vor: das „Glacier Jacket“. In Zukunft könnte Kleidung aus ausgedienten Geotextilien also tatsächlich in den Handel kommen. Die Chance, ausgediente Geotextilien sinnvoll wiederzuverwerten, birgt nämlich ein großes Potenzial. Immerhin ist ihre Lebensdauer in der Regel auf zwei Jahre begrenzt, danach werden die riesigen Bahnen an Vliesstoff einfach entsorgt.


Die „Glacier Jacket“: Lenzing strebt mit einem Netzwerk an Partnern das Recycling der Geotextilien am Ende des Lebenszyklus an, um ihnen ein zweites Leben als Kleidungsstück zu geben. Fotos: © Lenzing AG
Ein globaler Weckruf für gemeinsames Handeln
Das Projekt fand bereits große internationale Beachtung. Gut so, denn Krishna Manda, Vice President Corporate Sustainability bei Lenzing, sieht das Projekt als Beispiel für notwendige Veränderungen. „Da der Klimawandel das Abschmelzen der Gletscher beschleunigt, befinden wir uns an einem kritischen Punkt, der einen transformativen Wandel für globale Auswirkungen erfordert. Dieses bahnbrechende Projekt stellt die ausgewogene Verbindung zwischen Technologie und Natur dar, indem es kollaborative, zirkuläre und nachhaltige Praktiken aufzeigt und gleichzeitig als Aufruf zum kollektiven Handeln dient. Dieses Projekt ist ein Beispiel dafür, welche Möglichkeiten wir haben, wenn wir zusammenarbeiten.“ Das Pilotprojekt in Österreich ist erst der Anfang – die Idee könnte weltweit Schule machen. Die nachhaltigen Geotextilien aus cellulosischen Fasern bieten eine echte Alternative zu erdölbasierten Materialien und zeigen, dass Klimaschutz mit cleveren Ideen und branchenübergreifender Zusammenarbeit erfolgreich sein kann. Ein inspirierendes Beispiel dafür, wie Wissenschaft, Industrie und Design zusammenarbeiten können, um die Natur zu bewahren.
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