Als Model Bella Hadid ein weißes Slipdress live auf dem Runway der Coperni S/S 23 Show auf den Körper gesprüht wurde, liefen die Smartphone-Bildschirme heiß. So etwas hatte Social Media noch nicht gesehen. Das war letzten Oktober. Für Sabine Seymour war diese Aktion damals schon ein alter Hut. „Solche aufsprühbaren Textilien, wie sie das Unternehmen Fabrican für Coperni zeigte, gibt es seit 20 Jahren“, erzählt die Wissenschaftlerin und Unternehmerin. Bereits in den 90ern spezialisierte sie sich auf das Thema Science Fashion. Tatsächlich wurde Fabrican schon 2003 gegründet und die Sprühtextilien vom Time Magazine längst als eine der ‚50 Best Inventions of 2010‘ prämiert.
Bis es zum viralen Social-Media-Moment kommt, sind viele dieser erstaunlichen neuen Materialien meist nur in Wissenschaftskreisen bekannt. „Dabei gibt es unzählige spannende Projekte in dem Bereich“, sagt Seymour, die sich mit ihren Unternehmen Moondial und Pony Earth unter anderem mit der Integration von Technologie in Textilien befasst. „Es gibt Färbetechniken mit Algen oder Bakterien. Im Myzelium, also den fadenförmigen Zellen eines Pilzes, steckt großes Potenzial. Oder in neuen Naturfasern aus agrarwirtschaftlichen Abfällen wie Reishülsen, Stroh oder Hanf“, schwärmt sie weiter. Seymour muss es wissen: Die Österreicherin wurde an der Parsons School of Design in New York zur ersten Professorin für ‚Fashionable Technology‘ ernannt, ein Begriff, den sie mit ihrem gleichnamigen Buch prägte, das 2008 erschien.
Science what?
Der Bereich Science Fashion nimmt gerade Fahrt auf. Gründe dafür sind neben technologischem Fortschritt vor allem die Notwendigkeit, mehr und mehr auf ressourcensparende und umweltschonende Textilien und Verarbeitungsweisen zu setzen. Science Fashion oder auch Biotech Fashion kombiniert Designprinzipien mit wissenschaftlichen Disziplinen wie Technik, Ergonomie, Physiologie und Biologie. Man bewegt sich dabei in zwei Richtungen: Zum einen geht es um tragbare Technologie, also um Textilien, die elektronische Impulse senden und damit auf den Körper und seine Signale reagieren. Zum anderen stehen Biomimikry oder Biomimetik im Fokus, die sich die Natur zum Vorbild nehmen.
Frauen als Vorreiterinnen
Führend auf diesem abstrakt anmutenden Forschungsgebiet sind Frauen. Designerin Suzanne Lee beispielsweise entwickelte gemeinsam mit dem Zentrum für Synthetische Biologie am Imperial College London ein visionäres Forschungsprojekt zu Kleidung auf der Basis bakterieller Zellulose. Harmlose Bakterien erzeugen dabei in einer Grünteelösung Zellulose. Das textilähnliche Material ist dann in nassem Zustand formbar und trocknet in der gewünschten Passform.
Die Professorin und Pionierin im Bereich Science Fashion Carole Collet arbeitet seit Jahren daran an Science Fashion. Sie will das Zellwachstum in Pflanzen kodieren, Biologie mit Nanotechnologie kombinieren und auf diese Weise intelligente und reaktionsfähige lebende Textilien erschaffen. Geht es nach Collet, züchten wir im Jahr 2050 Hochleistungspflanzen im Gewächshaus, die genetisch so verändert sind, dass sie gleichzeitig Obst und Gemüse sowie Textilien und semielektronische Komponenten hervorbringen. Collet stellt sich zum Beispiel die Schaffung einer hybriden Erdbeerpflanze vor. Diese soll sowohl Erdbeeren als auch an den Wurzeln eine feine textile Spitze produzieren. Pflanzen werden so programmiert, dass sie bestimmte Funktionen für uns erfüllen. Diese gentechnisch veränderten Hybridpflanzen könnten theoretisch ein intelligentes Reaktionsverhalten entwickeln. Sie könnten zum Beispiel Erzeugnisse hervorbringen wie einen Spitzenstoff, der sich verhält wie die Haut eines Chamäleons.
Wohin die Reise geht
Im Moment sind solche Quantensprünge noch Zukunftsmusik, wie Seymour erklärt: „Die Forschung macht derzeit wahnsinnig große Fortschritte. Für die Industrie steckt das Thema dagegen noch in den Kinderschuhen. Denn im Moment ist die Produktion dieser neuen Bio-Materialien nicht skalierbar und damit zu teuer.“ Dennoch erreichen vereinzelte Innovationen bereits große Modehäuser. Stella McCartney stellte kürzlich einen Jumpsuit vor: Er ist bestickt mit den von Elissa Brunato und ihrem Unternehmen Radiant Matter entwickelten biologisch-abbaubaren ‚BioSequins‘-Pailletten.
Ein Melting Pot aller Science-Fashion-Disziplinen ist derzeit das Projekt Maison/0 des Central Saint Martins College und des Luxusmodekonzerns LVMH Moët Hennessy – Louis Vuitton. Die Deutsche Charlotte Werth forscht hier als erste „Designerin in Residence“ an bakteriellen Textildruckverfahren. Ihre maschinell bedruckte Kollektion „Automating Violacein“ stellte sie dieses Jahr auf der Future Fabrics Expo in London vor. Sie ist die wichtigste internationale Plattform für neue Textilien. Studierende rund um Maison/0 arbeiten daran, umweltfreundliche Alternativen für den Luxusmodesektor zu finden. Die Forschungsergebnisse reichen von Lippenstift aus Mikroalgen bis hin zu Stoffapplikationen, die aus den Abfallpartikeln des Färbeabwassers hergestellt werden.
Der Impact von Science Fashion
Die Mode der Zukunft: Für Expertin Sabine Seymour ist sie nur sinnvoll, wenn sie nicht genauso verschwenderisch ist wie bestehende Verfahren. „Ich bin noch nicht überzeugt von teuren Materialien, die man im Labor erst wachsen lassen muss. Ich halte mehr davon, Neues aus etwas zu machen, das wir derzeit wegwerfen“, findet sie. Denn das nachhaltigste Material bringt nichts Gutes, wenn die Produktion dafür enorm viel Energie oder Wasser verbraucht. „Wirklich realistisch wird es erst, wenn diese Materialien einen Price Point erreichen, der nicht im Luxussektor liegt“. Science Fashion schafft ihren Impact erst im Großen.