Eine Baustelle mitten in Rom. Die Aktivist:innen rund um den Journalisten Carlo Petrini sitzen an einer langen Tafel und essen Spaghetti – die Essenz italienischer Tradition- als Protest gegen die Eröffnung der ersten McDonalds-Filiale in Italien. Schnelles, billiges Essen ohne Substanz, das wolle man hier nicht akzeptieren. Den Siegeszug von Fast Food konnte man bekanntermaßen nicht aufhalten – aber die Protestaktion sollte der Auftakt sein für eine weltweite Zusammenkunft von Menschen, die Essen wertschätzen und zelebrieren. 1987, nur ein Jahr nach diesem Ereignis, gründete Carlo Petrini offiziell die Non-Profit-Organisation Slow Food. Mittlerweile verzeichnet die weltweite Bewegung über 100.000 Mitglieder aus über 150 Ländern, die eine Überzeugung teilen. Nämlich, dass Lebensmittel gut, sauber und fair sein müssen. Das heißt, sie sollen herausragend schmecken, ökologisch und nachhaltig hergestellt werden und Produzent:innen einen fairen Preis einbringen.
Im Österreichischen Bundesland Kärnten ging man sogar noch einen Schritt weiter und verbindet den Slow-Food-Gedanken mit passenden Urlaubsangeboten. Im Gail-, Gitsch- und Lesachtal sowie am Weissensee findet man nun die weltweit erste Slow Food Travel Region. Gäste wohnen in ausgewählten Unterkünften und lernen die Menschen persönlich kennen, die hinter den Delikatessen der Region stehen – und können diese in Kursen auch selbst machen. Denn wer mehr über der Produktion seiner Lebensmittel weiß, genießt bewusster. Wir starten am Weissensee in echter Slow-Travel-Manier: Ganz ohne Auto, mit öffentlichen Verkehrsmitteln.

Langsam reisen, mehr sehen
Pionier:innen in Sachen Öko-Tourismus findet man in der ganzen Region. Mein Weg führt mich allerdings zum Weissensee, dem offiziell saubersten und höchstgelegenen See Österreichs. Er ist Teil der Alpine Pearls, einem internationalen Netzwerk für nachhaltigen Tourismus mit Fokus auf Mobilität. Deshalb klappt der Urlaub mit öffentlichen Verkehrsmitteln hier reibungslos. Vom Bahnhof aus gelange ich im Shuttlebus (der für Gäste der Region gratis ist) an mein Ziel, den Ort Neusach, der sich direkt an den See schmiegt. Von hier aus geht es in den folgenden Tagen bequem mit dem Leihrad, zu Fuß, mit dem Wanderbus oder per Boot weiter, das hier im Stundentakt den gesamten See umrundet – und mit der Weissensee-Card ebenfalls gratis nutzbar ist. Oder man schnappt sich ein Tretboot und paddelt damit über das kristallklare Wasser, das man sonst nur in der Karibik findet.
Als Slow-Food-Region bietet der Weissensee natürlich auch genügend kulinarische Auswahl. Im Restaurant und Hotel Die Forelle kredenzt Haubenkoch Hannes Müller fangfrischen Fisch aus dem See und Produkte aus der Region. Das Strandhotel am Weissensee dagegen spezialisiert sich seit jeher auf völlig fleischfreie und vegane Kost.




Wissen vermitteln
Es fällt schwer, das türkisblaue Wasser des Weissensees zu verlassen, nichtsdestotrotz geht es für mich weiter nach Kötschach-Mauthen. Mit einem der leihbaren E-Autos, die sich in der Region großer Beliebtheit erfreuen, besuche ich Herwig Ertl in seiner Edelgreisslerei. Der Kärntner beschreibt sich selbst als Querdenker und Hüter regionaler Schätze, kennt all seine Produzent:innen persönlich und erzählt ihre Geschichten. 2015 holte er das Slow Food-Konzept in seine Heimat, um bei Einheimischen als auch Urlaubsgästen neue Lebensmittel-Leidenschaft zu entfachen. Und das kann er tatsächlich, wie kein zweiter, wie ich bald nach der Begrüßung merke. „Der einzige Aktivismus, der uns weiterbringt, ist der, den man lebt. Wenn sich immer nur die anderen um etwas kümmern sollen, passiert nichts.“ Es ist eine Leidenschaft für gutes Essen, aber vor allem für die Menschen dahinter, die sofort ansteckt.
Man muss nicht zweimal fragen, ob eine der vielen Delikatessen probiert werden darf. Rund um mich finden gerade Verkostungen statt, begeisterte Ausrufe sind zu hören. So wie beim Happen aus Ziegenkäse aus Blauschimmel von Winzertochter Alessia Moschioni aus dem Friaul, mit Sardellen, Orangenmarmelade und Traubenessig auf einem „Schwiegermutterzunge“ genannten Gebäck, das gerade auf meiner Zunge zergeht. „Tue Gutes und rede darüber, das war immer schon mein Motto“, kommentiert Herwig. „Denn, wenn niemand weiß, dass es dich gibt, kannst du nichts verändern. Du kannst bio-zertifiziert sein, aber wenn du es nicht lebst, ist es nur aufgrund einer Förderung passiert und das ist nicht authentisch.“ Er sieht sich deshalb als Sprachrohr für alle, die selbst kein Talent dafür haben. Und natürlich, um die Besonderheit von regionalem Essen wieder ins Bewusstsein zu rücken. „Wenn jemand bei mir etwas lernt, dann habe ich meinen Auftrag erfüllt. Aber dafür muss man eben kreativ und mutig sein.“




Erzähl es weiter!
Bestes Beispiel für den Mut zum Auffallen ist die Kötschach-Mauthner Käseschokolade von der Schokoladenmanufaktur Zotter, die aus Bio-Rohmilchkäse und weißem Gailtaler Bio-Landmais aus der Region besteht. Kostenpunkt ist knapp € 4,-. Mir springt ein Gläschen mit eingelegten Taglilienblüten ins Auge, um stolze € 11,-. Auch das gesunde Gewächs Radic di Mont, das ich soeben verkostet habe, bringt es auf € 25,- pro Glas. Dass sich Slow Food niemand leisten kann, bezeichnet Herwig Ertl dennoch als Blödsinn. „Dinge zu kaufen, die aus der Region stammen oder vom Nachbarn produziert werden, das ist leistbarer Luxus. Hinter jedem wertvollen Produkt steht ein wertvoller Mensch.“
Viel eher gehe es darum, Lebensmittel so wertzuschätzen, dass man niemals etwas davon verschwenden würde. Und zu lernen, wie wenig man eigentlich braucht zum glücklich Sein. „Deshalb ist mir der Aktivismus so wichtig, denn viele Bauern und Bäuerinnen wissen gar nicht um ihren Wert Bescheid. Man sieht vielleicht die süßen weißen Ziegen auf der idyllischen Weide. Was aber meist nicht gezeigt wird, ist der harte, arbeitsintensive Alltag der Bäuerin. Hört man dann den Preis für einen Kilo Käse, schreckt das ab. Aber wenn man all die harte Arbeit im Kopf hat, beginnt man zu verstehen, warum der so teuer ist.“




A Millennial dream
Nach wenigen Fahrtminuten über eine geschwungene Waldstraße treffe ich Eva Hinterbichler und Philipp Bodner in ihrer Obstbaumschule Fruchttrieb. Auf knapp 1.000 m Seehöhe gedeihen hier seit zwei Jahren über 200 selten-gewordene Sorten von Obstbäumen und –sträuchern, die sie zum Verkauf anbieten. Das organisch-biologische Bewirtschaften per Hand gehört dabei gar nicht zum Hauptberuf der beiden, wie Eva erzählt: „Wir haben beide einen Brotjob, durch den wir diese Leidenschaft hier finanziert haben. Es ist zwar viel Arbeit, aber genau unser Ding. Wenn wir hier draußen arbeiten oder nach alten Sorten suchen, dann ist das wie Meditation.“ Mit ihrer Arbeit wollen die beiden Millennials Streuobstwiesen und ihre Biodiversität bewahren und helfen, dass Anbauweisen und Rezepte nicht in Vergessenheit geraten.
Slow-Food-Snack, neu entdeckt
Bestes Beispiel dafür ist die Kletzenbirne: Seit Jahrhunderten wird diese kleine Frucht auf Streuobstwiesen kultiviert und als gedörrter, nährstoffreicher Snack geschätzt. Früher fixer Bestandteil der Streuobstwiesen im Dreiländereck Kärnten, Friaul und Slowenien, droht sie heute in Vergessenheit zu geraten und mit ihr ein Stück kulinarische Identität, Handwerk und Sortenvielfalt dieser Region. Philipp gehört zu den Initiatoren der Slow-Food-Initiative, der dieser Kletzenbirne die Auszeichnung “besonders schützenswert” verlieh. Dass die Bestände schrumpfen, liegt an der Geduld, die man ihnen entgegenbringen muss. Wer Kletzenbirnen verarbeiten möchte, muss warten, bis sie vom Baum fallen und sie nach und nach einsammeln. Die nachgereiften Früchte eignen sich nicht zum Verzehr oder zu weiterer Lagerung, sie werden stattdessen destilliert oder gedörrt. Da die im Gras liegenden Birnen für Obstgartenbesitzer:innen lästig sind, das Birnenholz hingegen ein gesuchter Rohstoff, werden immer noch viele dieser alten Bäume gefällt. „Wo früher pro Hof mehrere Kletzenbirnbäume zu finden waren, steht heute meist nur mehr einer“, berichtet Philipp. Die Schritte, die nun unternommen werden, sind das Nachziehen der Sorten in der Baumschule und die Revitalisierung der alten Bäume durch gezielten Schnitt.




„Im Supermarkt sehen wir nur eine Bruchteil des regionalen Obsts und Gemüses, dass es bei uns eigentlich gibt. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir diese enorme Vielfalt verlieren, weil wir uns nicht damit beschäftigen“, so Philipp. Die beiden Obstbaumzüchter:innen leben mit ihrem Herzensprojekt die Slow-Food-Philosophie – und stecken mit ihrer Leidenschaft hoffentlich noch viele weitere an.