Die meisten von uns haben doch schon mal mit dem Gedanken gespielt, „auszusteigen“ und wo anders nochmal neu anzufangen, oder? Regine und ihr Freund Anton haben das gemacht: Die beiden haben ihre Jobs in Berlin gekündigt, ihre Wohnung verkauft und sind in die Bretagne gezogen. Wir haben Regine gefragt, wie das mit dem Auswandern wirklich ist, warum so viele Menschen Sehnsucht nach einem anderen Leben verspüren und ob sie sich nicht doch manchmal ihren alten Lebensstil zurückwünscht.
Klingt wahnsinnig idyllisch, ist manchmal ziemlich hart: sich selbst zu versorgen, den Sinn des Lebens zu finden, im Einklang mit Natur und Tieren zu leben. Auf humorvolle, informative und anrührende Weise erzählt Regine Rompa in ihrem Buch „Unser Hof in der Bretagne“ von ihrem ersten Jahr in Frankreich, ihren eigenwilligen bretonischen Nachbarn, wie es ist, sich selbst zu versorgen und wie sich das Leben ohne öffentlichen Nahverkehr, Kinos oder Lieferdienst gestaltet.
Auswandern in die Bretagne: Ein großer Schritt
FOGS: Du triffst mit deinem Buch den Zeitgeist: Mehr Menschen denn je sehnen sich nach ländlicher Ruhe, Rückzug und spielen vielleicht auch mit dem Gedanken „auszusteigen“. Was denkst du – woran liegt das?
Regine Rompa: “Ich denke, dass das vor allem auf zahlreiche Menschen in Großstädten zutrifft, weil sie mehr und mehr Input ausgesetzt sind. Viele müssen sehr viel arbeiten und haben wenig freie Zeit. Die Arbeit ist oft stark fremdgesteuert und findet in naturfernen Umgebungen statt. Im Alltag ist es dann kaum möglich, noch Bezug zur Natur aufzubauen. Ich selbst habe mich deshalb in meiner Zeit in Berlin zumindest stark nach Natur gesehnt – wobei ich unseren Neuanfang aber nie als Ausstieg aus der Gesellschaft sehen wollte, sondern nur als Ausstieg aus dem Hamsterrad. Ich wollte mich nicht aus der Gesellschaft zurückziehen, sondern wieder die Zeit haben, mich einzubringen. Zum Beispiel über Gespräche wie das mit dir gerade.”
FOGS: Welchen Rat würdest du Menschen geben, die nicht mehr mit ihrer Situation zufrieden sind, die auch auf der Suche nach einem „Sinn“ sind – aber vielleicht nicht auswandern und aufs Land ziehen möchten?
Regine: “Ich weiß nicht, ob ich in der Position bin, da Ratschläge zu erteilen. Sinnsuche ist ja etwas ganz Persönliches und es ist wahrscheinlich nicht möglich, da mit einer Pauschallösung zu kommen. Deshalb würde ich einfach diese Fragen stellen: Warum bist du unzufrieden? Was verstehst du unter einem sinnvollen Leben? Wie kannst du dich dem Leben annähern, das du sinnvoll findest?”
FOGS: Welchen Rat würdest du Menschen geben, die selbst auswandern möchten?
Regine: “Schaut euch die Gegend, in die es euch zieht, genau an. Achtet dabei nicht nur auf das Haus oder die Wohnung und das Land, sondern auch auf die Menschen um euch herum. Euer Glück hängt wahrscheinlich mehr an den Freunden, die ihr vor Ort finden werdet, als an einer guten Zimmeraufteilung oder Ähnlichem.
Klingelt deshalb bei den Nachbarn und sprecht mit ihnen, geht in die Kneipe vor Ort, um ein paar Leute kennenzulernen, holt euch (bei kleinen Dörfern) im Rathaus Infos, was vielleicht an Freizeitaktivitäten angeboten wird, bei denen ihr euch integrieren könntet. Jetzt muss ich aber ehrlicherweise hinzufügen: Wir selbst sind ins Auswandern ganz ungeplant hineingeschlittert, ohne diesen Rat zu befolgen.
Daher schiebe ich gleich hinterher: Ihr braucht meinen Rat nicht, auch sonst keinen Rat. Hört auf euch selbst! 😉”
FOGS: Du beschreibst den Begriff der ökologisch-digitalen Boheme – kannst du das kurz erklären?
Regine: “Ich habe den Begriff “digitale Boheme” nach Sascha Lobo und Holm Friebe verwendet. Er fasst das Phänomen zusammen, dass durch die Digitalisierung immer mehr Menschen selbstständig übers Internet arbeiten können – von zu Hause aus oder in Bürogemeinschaften. Damit ist für viele Menschen Beruf plötzlich nicht mehr an einen bestimmten Ort gebunden. Als das Buch „Wir nennen es Arbeit“ von Sascha Lobo und Holm Friebe vor vielen Jahren erschien, funktionierte das allerdings meist nur in der Stadt – denn auf dem Land war die Internetverbindung oftmals zu schlecht.
Aktuell verändert sich das stark, sodass auch immer mehr Menschen mit digitalen Berufen aufs Land ziehen können. Wir wohnen in der Bretagne ziemlich abgelegen, haben aber schnelles Internet. Das ist natürlich nicht überall so, aber in Deutschland und vielen anderen Ländern tut sich da politisch ja gerade einiges. Wer einen digitalen Beruf hat, kann also plötzlich, wenn er will, immer öfter auch auf dem Land leben. Das eröffnet Möglichkeiten: Auf dem Land sind die Immobilienpreise in der Regel wesentlich günstiger als in der Stadt, man kann vielleicht einen Garten haben, in dem man sein Gemüse selbst anbauen und ein paar Hühner halten kann.
Natürlich muss niemand diese Möglichkeiten nutzen. Wir haben aber ja vorhin darüber gesprochen, dass viele Menschen Sehnsucht nach Natur haben. Die können sie damit plötzlich stillen. Mein Freund und ich haben überrascht festgestellt, dass es in unserer Umgebung extrem viele ehemalige Städter gibt, die dafür bewusst aufs Land gezogen sind: um gesunde und wirklich frische Nahrung aus eigenem Anbau zu ernten, durch eigene Tierhaltung von beispielsweise Hühnern für Eier nicht mehr von der Tierindustrie abhängig zu sein, durch dein Eigenanbau Essen ohne Pestizide zu konsumieren, klimaschädliche Transportwege und Verpackungsmüll zu vermeiden und so weiter.
Dieses Phänomen, dass Leute mit digitalen Berufen plötzlich aus ökologischen Gründen aufs Land ziehen, habe ich deshalb im Buch „ökologisch-digitale Boheme“ genannt. Ich will mit dem Begriff nicht werten, sondern nur ein Phänomen beschreiben. Natürlich kann man auch in der Stadt ökologisch bewusst leben. Es gibt ja mittlerweile in vielen Großstädten zum Beispiel Supermärkte ohne Plastik und der Trend zum Veganismus geht soweit, dass man oft auch im Restaurant essen kann, ohne die Tierindustrie zu unterstützen, um nur zwei Beispiele für viele Möglichkeiten zu nennen.
Sich mit Essen weitgehend selbst zu versorgen, wird hingegen in der Stadt wohl meist am Platz scheitern. Wir hatten zumindest nur einen kleinen Balkon in Berlin, das hätte nicht geklappt. 😉 Und mehr Land hätten wir uns in der Stadt als Normalverdiener nicht leisten können. Aber man muss sich ja auch nicht selbst versorgen, um ökologisch bewusst zu leben.”
FOGS: Könntest du dir vorstellen, wieder zurück nach Berlin zu gehen?
Regine: “Berlin ist eine tolle Stadt, aber ich will im Moment lieber hierbleiben. Eine Freundin von mir, die auch hier auf dem Land lebt, war vor einiger Zeit zurück in ihrer Heimatstadt London. Sie meinte, sie habe gar nicht mehr gewusst, was sie dort den ganzen Tag machen sollte. Das Supermarkt-Essen schmeckte ihr nach Jahren des Selbstversorgens nicht mehr (das Gemüse ist im Vergleich zu dem aus dem Garten ja immer alt) und es gab nichts zu tun. Sie konnte keinen Waldspaziergang machen, weil es keinen Wald gab.
Keiner ihrer Freunde hatte einen Garten, in dem sie etwas hätten unternehmen können. Überall standen Leute im Weg und es war so wenig Platz, dass sie am liebsten einfach drinnen geblieben wäre. Aber selbst drinnen war es laut und die Luft schlecht. Sie wusste nicht mehr, wie man in der Großstadt lebte! Klar, ist das jetzt zugespitzt und sie hat sich letztendlich doch gut zurechtgefunden und ist wohlbehalten wieder hier angekommen. Was ich damit aber sagen will: So wie man als Städter oft nicht weiß, was man auf dem Land die ganze Zeit machen soll, weiß man als „Ländler“ oft auch nicht mehr, was man in der Stadt machen soll. Man gewöhnt sich an seinen Lebensstil. Ich will das Landleben gerade nicht mehr missen.“
FOGS: Vermisst du manchmal Konsum – im Sinne von Einkaufen und Shoppen?
Regine: “Das ist mir peinlich, aber ja. Wir haben für uns festgelegt, dass wir möglichst wenig konsumieren wollen, um weniger Geld zu brauchen, weniger am Computer arbeiten zu müssen und mehr Zeit für uns und unsere Umgebung zu haben. Wenn Freundinnen von früher zu Besuch kommen, stelle ich dann mittlerweile zum Beispiel manchmal fest, dass ich „schlecht gekleidet“ bin. Ich kaufe möglichst wenig – und wenn dann in der Regel im Second-Hand-Laden. Das ist günstiger und ökologischer, aber hier auch oft modisch nicht so aktuell. In meinem normalen Alltag spielt das allerdings keine Rolle und es gibt sowieso im nächsten Ort von uns keine Kleidergeschäfte (er ist nur ganz klein), sodass ich nicht in Versuchung geführt werde. 😉
Um Konsum auch online zu vermeiden, halte ich mich an ein paar selbstauferlegte Regeln: Was nicht überlebensnotwendig ist, lasse ich erstmal ein paar Tage im Warenkorb liegen. Meist stelle ich dann fest, dass ich es nicht brauche und lösche es wieder. Wenn ich Portale wie Amazon besuchen will, klicke ich schnell auf Pinterest und schaue mir stattdessen Dinge an, die ich selbst herstellen könnte. Häufig inspiriert mich das mehr und der Konsumwunsch vergeht. Wenn beides nicht hilft, überlege ich, warum ich den jeweiligen Gegenstand wirklich will. Das ist interessant, denn wenn ich den Konsumwunsch offen hinterfrage, steckt zumindest bei mir häufig etwas ganz anderes dahinter als der Gegenstand selbst.
Ich habe zum Beispiel vor einiger Zeit sauteure Gartenpavillons gegoogelt, die wir uns bei unserem jetzigen Lebensstil sowieso nicht mehr leisten könnten. Wenn ich ehrlich hinterfrage, warum ich so einen Pavillon wollte, stelle ich mir vor, wie er in unserem Garten steht, mit Rosen und Kürbissen überwuchert ist und wir darunter mit Freunden essen. Eigentlich will ich also eine gute Zeit mit Freunden verbringen. Dafür brauchen wir aber keinen Pavillon. Statt Geld zu verdienen, um einen Pavillon zu kaufen, sollte ich meine Zeit nutzen und Freunde einladen. Habe ich dann gemacht. Und jetzt wird’s fast schon kitschig, aber es stimmt wirklich: Einer unserer Freunde kann schweißen. Er hat für ein paar Freunde und mich letzte Woche einen Kurs gegeben. Ich kann bisher nur eine ganz einfache Schweißnaht. Aber falls ich irgendwann gut darin sein sollte, werde ich aus alten Metallresten einen Pavillon schweißen. Die Zeit zum Üben habe ich ja. Und bis dahin wachsen die Kürbisse und Rosen auch ohne Pavillon im Garten.”
FOGS: Warum hat Nachhaltigkeit so einen großen Stellenwert für dich persönlich?
Regine: “Das hängt damit zusammen, wie ich „sinnvoll“ definiere. Jeder will ja im Grunde und wenn er nicht durch existenzielle Sorgen davon abgehalten wird, ein möglichst sinnvolles Leben führen, oder? Was man darunter versteht, kann natürlich ganz unterschiedlich sein. Ich persönlich finde sinnvoll, der Welt (also Menschen, Tieren und der Umwelt) möglichst wenig zu schaden und möglichst viel zu helfen.
Nachhaltigkeit beinhaltet ja im Prinzip genau das. Dass man schaut, dass man möglichst nur die Menge an Ressourcen verwendet, die auch nachwächst, also nichts langfristig zerstört. Wir sind keine Profis und von einer 100 %igen Nachhaltigkeit in allen Lebensbereichen weit entfernt (hier draußen brauchen wir zum Beispiel ein Auto, weil es keinen öffentlichen Nahverkehr gibt), aber indem wir unser Essen soweit wie möglich selbst anbauen und nur mit den umgefallenen Bäumen aus dem eigenen Wald heizen, haben wir es zumindest in diesen Bereichen leichter, die Kontrolle zu behalten. Sonst weiß man oft ja gar nicht, wo die Dinge herkommen und ob sie nachhaltig angebaut oder hergestellt wurden. Nachhaltigkeit ist für mich also wichtig, um zu erreichen, was ich für sinnvoll halte. Wir sind da aber auf jeden Fall noch auf dem Weg und noch nicht am Ziel angekommen.”
FOGS: Wie sieht dein Tagesablauf typischerweise aus?
Regine: “Das hängt stark von der Jahreszeit ab. Jetzt im Herbst ist im Garten weniger zu tun als im Frühling. Wir betreten außerdem unseren Wald im Herbst mittlerweile nur noch, wenn es unbedingt notwendig ist. Hier ist momentan Jagdsaison und wir haben in unserem Wald ein offizielles Wildtierschutzgebiet gegründet, in dem Jagen verboten ist. Damit sich die Wildtiere bei uns ungestört verstecken können, bleiben wir lieber draußen. Ich stehe etwa um 9 Uhr auf und gehe mit meinem Freund in den Garten. Die Hunde begleiten uns. Wir füttern die Hühner und gucken, was in den Gemüsebeeten zu tun ist. Mein Freund macht dann oft ein Omelett aus den Eiern unserer Hühner und Pilzen oder Tomaten (wir haben jetzt, am 14.10. tatsächlich noch Tomaten im Polytunnel!).
Ich arbeite danach 3–4 Stunden am Computer, schreibe z. B. einen Artikel oder beantworte Mails. Wenn ich fertig bin, essen wir zu Mittag. Es gibt immer viele Kartoffeln. Dazu haben wir im Moment viel Rosenkohl, Rote Beete, Mangold, Karotten, Palmkohl, Kürbisse und Kastanien. Im Garten wachsen auch noch grüne Bohnen und ein paar letzte Auberginen und Paprika. Nach dem Essen arbeiten wir häufig im Garten, säen aktuell z. B. Spinat, jäten und bereiten alles auf den Winter vor. Danach machen wir manchmal etwas mit Freunden oder gehen mit den Hunden spazieren. Ich gehe einmal die Woche töpfern und nehme an einem Französischkurs teil. Mein Freund Anton geht viel Mountainbiken und surfen. Abends haben wir gelegentlich Besuch zum Essen da oder sind bei jemandem zum Essen eingeladen. Gemeinschaft ist so abgelegen auf dem Land sehr wichtig, für uns natürlich besonders, weil wir neu dazugekommen sind und uns integrieren wollen.
Natürlich sind wir oft auch allein. Dann sitzen wir mit den Hunden am offenen Kamin (wir haben keine Zentralheizung) und lesen oder schauen etwas auf Netflix. Einen Fernseher haben wir nicht, dafür aber ja Laptops für Nachrichten & Co. Und das war dann der Tag. Viele fragen, ob wir keine größeren Probleme bei unserem Neuanfang gehabt hätten. Dann fällt mir auf, dass wir wahrscheinlich ziemlich Glück gehabt haben. Klar, wir mussten Französisch lernen und machen immer noch viele Fehler. Aber unüberwindbare Probleme hatten wir bisher wirklich nicht. Wir hatten es natürlich auch dadurch leichter, dass wir unsere Jobs hier übers Internet ausüben können, auch wenn wir nicht mehr so viel arbeiten wie früher. Dank unserem neuen Lebensstil ist das nicht mehr nötig.”
Vielen Dank für das schöne Interview!
Credit Aufmacherbild: Objektif naturel – Pénélope Secher