Ein emsiges Summen kommt aus dem hohen Gras. Bienen, Schmetterlinge und andere Insekten tummeln sich auf der Vielfalt an Blüten, Wildkräutern und Disteln. Ein Stockwerk darüber ragen knorrige Bäume und Büsche empor, seltene Arten wie Felsenbirnen, Vogelbeeren oder Mispeln. Streuobstwiesen nennt man diese alte Kulturform, in der die Fläche unter den Obstbäumen als Lebensraum für Tiere, Insekten und andere Pflanzen genutzt wird. Bunte Vielfalt statt Monokultur. Früher alltäglich, drohen Streuobstwiesen heute sogar auszusterben. „Letztes Jahr hat ein Insektenforscher der Universität für Bodenkultur Wien unser Grundstück untersucht und war erstaunt, welche Artenvielfalt es hier gibt“ sagt Reinhard Adelsberger über das Summen hinweg. Als Betreiber des Gut Guntrams weiß er genau, was hier kreucht und fleucht. „Allein zwölf verschiedene Fledermausarten leben bei uns. Mit etwas Glück kreuzen auch seltene Gottesanbeterinnen den Weg.“
Tatsächlich sind das Vogelgezwitscher und Summen hier die einzigen Geräusche, die diesen sonnigen Juli-Nachmittag erfüllen. Der kleine Ort Guntrams liegt zwischen Österreichs Landeshauptstadt Wien und der Wander- und Kulturregion Semmering im Osten und ist dadurch ein ruhiges Hideaway im Grünen. Charakteristisch für diese Gegend sind die Steppen des sogenannten Steinfeldes – großflächige, nährstoffarme Trockenwiesen und weite Föhrenwälder. Auch hier sind erste Veränderungen durch den Klimawandel sichtbar. Dürre und Schädlingsbefälle machen Wäldern und Wiesen zu schaffen. „Damit es unsere gewohnte Artenvielfalt auch weiterhin gibt, bedarf es einiges an Wissen und die Pflege alter Traditionen, wie den Streuobstwiesen“, so Adelsberger. „Genau das wollen wir hier weitergeben.“
Alte Sorten und Besonderheiten
Aus der ehemaligen Landwirtschaft, die seit den 1970ern biologisch bewirtschaftet wird, hat sich in den letzten Jahren ein Hotelbetrieb mit Ferienwohnungen und Frühstückslokal entwickelt. Im Vordergrund des Gut Guntrams steht aber weiterhin der Schutz alter Obstsorten. Der Bestand an Bäumen wurde stetig ergänzt, mittlerweile gibt es zum Beispiel 25 verschiedene Marillensorten, von kleinen Knödelmarillen bis zu fleischigen Ananasmarillen. Sorten, von denen die meisten Menschen noch nie gehört haben, weil sie nicht mehr im Supermarkt zu finden sind. „Wir verarbeiten unsere Artenvielfalt zu verschiedenen Spezialitäten, die wir in kleinen Mengen im Hofladen, aber auch in kleinen Shops in Wien verkaufen“, ergänzt Mitarbeiter Yannis Brix. Fliederblütensirup, Streuobstwiesen-Apfelsaft, Fruchtgeleewürfel aus Quitten und Hagebutte oder Zitronenkaviar aus der hauseigenen Orangerie sind dann solange im Angebot, wie der Vorrat eben reicht. Und das wechselt eben je nach Saison. Noch etwas, das man als Konsument:in nicht mehr gewohnt ist.
Als die Artenvielfalt verloren ging
Gezielte Züchtung von Pflanzen ist nicht per se schlecht. Über Jahrtausende haben Menschen aus dem Angebot der Natur jene Sorten selektiert, die ihren Nutzungsinteressen am besten entsprachen. Schon bald wurden Obst- und Gemüsesorten durch gezielte Züchtung größer, wohlschmeckender und ertragreicher. Ursprüngliche Bananen oder Wassermelonen hatten zum Beispiel große Kerne und so wenig Fruchtfleisch, dass sich ihr Verzehr kaum auszahlte. Den Höhepunkt erreichte die Artenvielfalt vor 150 Jahren, seither ist die Entwicklung gegenläufig. Die moderne Landwirtschaft und der Großhandel sorgen langsam dafür, dass aus alter Artenvielfalt globaler Einheitsbrei wird.
Von den über 30.000 essbaren Pflanzen nutzen wir heute vor allem drei: Reis, Weizen und Mais. Die weltweite Ernährung stützt sich im Wesentlichen auf gerade einmal zehn Kulturpflanzenarten, die mit technologischer Hilfe entstanden. Da diese hybriden Sorten regionale, an den Standort angepasste Nutzarten verdrängen, geht die Artenvielfalt zusehends verloren. Ihr Schutz ist auch rechtlich gesehen nicht attraktiv, weil gesetzliche Vorgaben eher auf Standardisierungen und Ertragssteigerungen abzielen. Was nicht regelmäßig gekauft wird, macht sich also vom Acker.
Natürliches Gleichgewicht
Dabei sorgt gerade die Artenvielfalt für gesundes Gleichgewicht: Mit dem Züchten von ertragreicheren Sorten wird auch das Erbmaterial einseitiger. Das macht anfälliger für Krankheiten. Natürliche Kulturformen wie Streuobstwiesen kommen dagegen meist ohne synthetische Pestizide und Kunstdünger aus, was wiederum den natürlichen Kreislauf aus Nützlingen und Schädlingen im Gleichgewicht hält. Auch vermeintliche Allergien könnten mit einer Rückkehr zu alten Sorten verschwinden. Aus vielen Apfelsorten wie bspw. Pink Lady wurde nämlich der Stoff Polyphenol rausgezüchtet, damit sie nach dem Aufschnitt nicht mehr braun werden. Gleichzeitig macht sie diese Genveränderung aber unbekömmlicher für einige Menschen. Hat man also vermeintlich eine Apfelallergie, stehen die Chancen gut, dass man alte Sorten problemlos verträgt. Um das genetische Potential dieser wertvollen Sorten zu sichern, bedarf es also gezielter Erhaltungsstrategien.
Die Gemeinnützige Organisation Arche Guntrams, die zum Gut gehört, setzt sich genau dafür ein. Im Naturschwimmteich und Waldbiotop auf dem Anwesen wird regelmäßig dokumentiert, wie sich der Lebensraum der Tiere und Insekten durch diese Gewässer verändert. Eine Au in der Nähe wird gerade wieder renaturiert. Das heißt: Bäume und Sträucher pflanzen, die resistent gegen das zukünftige Klima sind. Statt aussterbenden Föhren gedeihen dort nun Hollunder, Ebereschen und Weichseln. Und es entstehen neue Gewässer, die sich im Frühjahr nach der Schneeschmelze am Semmeringgebirge natürlich befüllen.
100-jährige Bäume
Am Rückgang der Streuobstwiesen und somit der Artenvielfalt sind wir selbst nicht unschuldig, weiß auch Reinhard Adelsberger: “Durch den Supermarkt werden wir verzogen. Man will, was man bereits kennt. Alte Obstsorten sind ja nie gleich groß, manchmal recht klein und unförmig. Die Leute kaufen lieber große, pralle Äpfel, die perfekt aussehen.“ Alte Sorten haben sich jahrhundertelang an ihre Anbauregionen angepasst, was sich in ihrem einzigartigen Aussehen zeigt. Dadurch sind sie für die weitere Züchtung von unschätzbarem Wert.
„Die Weiterverbreitung alter Sorten ist schwierig, wenn man nicht weiß, wo die Bäumchen erhältlich sind,“ kommentiert Reinhard Adelsberger. „Wir haben deshalb eine Baumschule angelegt und haben jeden Herbst Verkaufstage. Wenn wir erklären, dass diese Bäume etwa 15 Jahre benötigen, um erste Früchte zu tragen, werden die Leute natürlich kurz stutzig. Bäumchen aus der konventionellen Gärtnerei tragen ja schon nach 2 Jahren Früchte. Aber dafür werden unsere Bäume locker hundert Jahre alt.“
Geschmackserlebnis
Gegen das Verschwinden alter Sorten kämpft man im kleinen Ort Guntrams gemeinsam an, wie Yannis Brix erzählt: „Unser Ziel ist es, hier in der Gegend Leute zu animieren, uns ihr übriggebliebenes Obst zu bringen anstatt es vergammeln zu lassen. Eine ältere Dame bringt uns beispielsweise kiloweise Äpfel einer recht alten, seltenen Sorte. Im Gegenzug bekommt sie dann den frischen Apfelsaft von uns.“ Ein ständiges Geben und Nehmen, das ist es auch, was die wertvollen Streuobstwiesen hier auszeichnet, in denen alles noch im harmonischen Gleichgewicht existiert.
„Und wenn das alles nicht genug ist: Auch der Geschmack der Produkte übertrifft alle aus dem Supermarkt. Ein Saft aus „Pink Lady“ oder „Golden Delicious“-Äpfeln kann auf keinen Fall mit den alten Sorten mithalten“, sagt Reinhard Adelsberger beim Überreichen eines Champagnerglases mit trübem Apfelsaft. Er schmeckt leicht, nicht so wuchtig-süß wie jene Säfte aus dem Supermarkt. Zur fruchtigen Note gesellt sich ein säuerliches Kitzeln und ein Hauch Herbheit. Die Beiden lächeln, wissend, welchen Schatz sie hier im kleinen Ort Guntrams hüten dürfen.