Sie kann uns in den Wahnsinn treiben. Und gleichzeitig zu Höchstleistungen pushen: Die Langeweile. Das Gefühl der Leere im Gehirn tritt heute kaum noch auf. Dabei ist es so wichtig, um Probleme zu lösen und neue Wege zu entdecken, die uns wirklich weiter bringen. Was die wenigsten verstehen: In der Langeweile steckt für jeden ganz persönlich großes Potential.
In der Yoga-Kriegerhaltung stehe ich auf einer grünen Wiese im Herzen Münchens. Es ist ein sonniger Montag. 18.43 Uhr. Um mich herum über 50 andere Yogis, die alle unter freiem Himmel die gleiche Pose einnehmen. Eine Ameise krabbelt über meinen Fuß, aus der Ferne dröhnt eine Polizeisirene. Leichter Wind weht mir durch die Haare. Die Yogalehrerin bittet uns in dieser Stellung auszuharren. Und dann fällt ein ganz entscheidender Satz: „Langweilt euch doch einfach mal“, sagt sie und fügt gleich hinzu: „Ihr wisst wahrscheinlich gar nicht mehr, wie das geht.“
Es ist diese Aussage, die nach der Yogastunde in meinem Kopf hallt. Ich weiß es wirklich nicht mehr, wie es sich anfühlt, richtig gelangweilt zu sein. So wie damals, als ich klein war und während der Ferien nichts mit mir und meiner freien Zeit anzufangen wusste, und ein klitzekleines Bisschen die Schule herbeisehnte.
Sobald heute auch nur das geringste Gefühl von Monotonie entsteht, holen die meisten Leute ihr Smartphone aus der Tasche, rufen eine App oder ihren Browser auf und lassen sich berieseln. Von Bildern. Texten. Musik. Videos. Das Angebot ist unendlich und immer verfügbar. Einfach nur dasitzen und nichts tun, das scheinen wir heute nicht mehr zu können.
Moderne Technik überblendet die Langeweile
Dabei wird das Smartphone nicht dazu verwendet, Langeweile zu heilen, sondern es überblendet sie eher. „Auf lange Sicht gesehen schafft es unsere Probleme nicht auf die Seite, weil wir während der Smartphone-Benutzung nicht wirklich involviert sind“, verrät uns Mariusz Finkielsztein vom Institut für Soziologie an der Universität Warschau, der die „Boredom Conference“ ins Leben gerufen hat, einen wissenschaftlichen Kongress, der sich allein mit dem Thema Langeweile beschäftigt. „Die Benutzung von intelligenten Geräten ist wie eine Sackgasse. Es ist ein bisschen so, als wolle man eine Drogenabhängigkeit mit einer Extra Dosis heilen.“
Der Wissenschaftler geht davon aus, dass Langeweile nur mit echter Beteiligung an einer Sache bekämpft werden kann. Das kann beim Sport sein, im Kontakt mit Freunden oder Familienmitgliedern oder auch in der Religion liegen. Wichtig dabei ist, dass man sich tatsächlich mit etwas beschäftigt und sich auf diese Sache konzentriert.
Doch der Kampf gegen die Langeweile muss nicht zwingend immer auch geführt werden. Wir müssen Langeweile wieder mehr zulassen. Sie ist evolutionsbedingt nämlich ein entscheidender Antrieb für den Menschen. Und gleichzeitig ein Gemütszustand, den die wenigsten aushalten können.
190 Stromschläge gegen Langeweile
Wie ein 2014 durchgeführtes wissenschaftliches Experiment von Psychologen der University of Virginia gezeigt hat, verpassen sich Menschen lieber Stromschläge, als sich zu langweilen. 42 Probanden im Alter von 18 bis 77 sollten für 15 Minuten in einem Raum still auf einem Stuhl sitzen und sich im Geiste mit irgendeinem beliebigen Thema beschäftigen. Sie waren dabei verkabelt und bekamen einen Knopf in die Hand, mit dem sie sich Stromschläge verpassen konnten. Es wurden nur Versuchsteilnehmer ausgewählt, die vorher diese Art der Stromschläge als besonders unangenehm eingestuft hatten. Das Erstaunliche: Bereits nach wenigen Minuten verpassten sich zwei Drittel der Männer und ein Viertel der Frauen Stromschläge gegen die Langeweile. Einer der Probanden sogar 190 Mal.
Ist Langeweile wirklich so schlimm, dass wir uns lieber selbst Schmerzen zufügen, als sie zu empfinden? Die Einförmigkeit hat eine Macht über uns. Und fühlt sich manchmal wie eine Ohnmacht an. Die Wissenschaft sprach früher sogar von der dunklen Energie im Gehirn. Heute wird Langeweile als der Konflikt zwischen dem Aufgabennetzwerk und dem Ruhezustandsnetzwerk aufgefasst.
Nicht nur der Mensch verspürt Langeweile
Auch unsere direkten, tierischen Verwandten, die Affen, verspüren das Gefühl von Tristesse. Im indischen Jaipur haben Rhesusaffen einen Heiligenstatus, werden ständig von Menschen mit Nahrung versorgt. Weil dadurch der Überlebenskampf weg fällt, bleibt Monotonie zurück. Und was machen die Tiere? Sie vertreiben ihre Langeweile, in dem sie auf einen Turm klettern und in ein Wasserbecken springen. Das Turmspringen der Affen hat zwar keinen überlebensnotwendigen Sinn, doch ihre Langeweile ist damit besiegt.
Wissenschaftler können daraus schließen, dass Langeweile dazu dient, etwas Neues auszuprobieren. Sie fördert Kreativität und kann der Schlüsselmoment zu etwas wirklich Großem sein. Wie der Entdeckung der Relativitätstheorie zum Beispiel.
Albert Einstein, 1905 im Berner Patentamt angestellt, war so gelangweilt von diesem Job, dass ihm sein Gehirn, ausgelöst durch die Monotonie, andere Impulse und Lösungsvorschläge schickte. Dass daraus eine für die Physik weltbewegende Theorie entstehen sollte, zeigt, wie wichtig Langeweile und damit die Aktivierung des Tagträumer-Gehirns sein kann. In diesem Modus denken wir ganz besonders intensiv über die Vergangenheit und die Zukunft nach.
Kommen wir ausgelöst durch Langeweile ins Tagträumen, sind wir kreativer, und finden plötzlich Lösungen für Probleme, über die wir uns oft stunden- und tagelang das Hirn zermartern. Daher ist es sinnvoll, bei schweren Entscheidungen das Gehirn erst mal ruhen zu lassen. Nur so findet Selbstreflexion statt, die uns zeigt, was wir wirklich wollen.
Das kann zum Beispiel durch Meditation erfolgen oder bei einem Spaziergang im Wald. Man beobachtet und kommt vielleicht in den Tagtraum-Modus, in dem wir uns mit einem Lächeln im Gesicht vorstellen, was wir mit einem Lotto-Gewinn anstellen würden oder wie wir die Ozeane von Plastik befreien und die Welt wieder ein Stück sauberer machen. Ganz egal, welchen Traum ein Mensch hat, beim Nichts-Tun kann er in Gedanken wahr werden. Und vielleicht hat irgendwer da draußen beim Tagträumen wieder so einen genialen Einfall wie ihn Einstein hatte. In Bern. 1905.
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Dieser Text ist zuerst erschienen in der FOGS-Herbstausgabe 2018 – hier nachbestellen.
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