Das Artensterben und der Verlust von Biodiversität sind Themen, die für viele von uns nicht greifbar und recht abstrakt sind. Man hört die Zahlen, weiß, dass es schlecht ist, doch meist passiert es weit weg von uns. Beim Wort Artensterben hat man Eisbären am Nordpol im Kopf, oder Gorillas in entlegenen Gebieten Afrikas. Doch eigentlich passiert es rund um unsere Heimat und das schon lange.
Artensterben vor unserer Haustür
Im Montafon, einem langen Tal im österreichischen Bundesland Vorarlberg, grasen beispielsweise gerade wieder Schafe, die es beinahe nicht mehr gegeben hätte. Die Rasse Montafoner Steinschaf kam bis vor knapp 30 Jahren nur noch vereinzelt im hintersten Teil des Tals vor, wurde durch größere und mastfähigere Rassen fast vollständig verdrängt. Dass die landwirtschaftliche Produktion immer mehr auf ertragreicheres Rinder- und Schweinefleisch umstellte bzw. generell zurückging, hatte schwerwiegende Folgen: Bis heute gibt es nur noch wenige Tiere, weshalb die Rasse als hochgefährdet gilt. „Nicht mehr lange“, sagen zwei Pioniere der Region, die die gefleckten Schafe retten wollen. Die Freunde Peter Kasper und Martin Mathies besitzen beide Landwirtschaften in der Region und gründeten die Marke „Montafoner Steinschaf“, in der sie diese alte Rasse gezielt züchten und deren Produkte vertreiben.
Die Rückkehr der Montafoner Steinschafe
Aber: Wie beginnt man denn überhaupt damit, eine fast ausgestorbene Art zu retten? „Wir haben uns zu Beginn mit alten Landwirt:innen unterhalten, welche das Montafoner Steinschaf von früher kannten“, erklärt Martin. „Wir haben unsere Tierzucht auf die Berichte von Zeitzeug:innen, Informationen alter Bilder, Schriften und Dokumente aufgebaut.“ Die größte Herausforderung war dabei, überhaupt passende Tiere für den Beginn zu finden, welche den Zuchtrichtlinien entsprachen. Schon im Jahr 1989 wurden in der Region Tiere angekauft und ein Zuchtbuch zur Vermeidung von Inzucht gegründet. „Seither wird es in ganz Vorarlberg und den angrenzenden Regionen gezüchtet. Wir sind seit 2008 dabei und konnten durch gezielte Arbeit andere dafür gewinnen, um gemeinsam unser Montafonerschaf zu erhalten.
Martin und Peter investierten unzählige Stunden, um Mitstreiter für ihr Vorhaben zu gewinnen bzw. Landwirt:innen von der Wichtigkeit des Überlebens der Montafoner Steinschafe zu überzeugen. „Oft wurden wir mit unserem Vorhaben belächelt. Weil diese Schafart ja als angeblich unwirtschaftlich galt“, erzählen die beiden heute. Der Bevölkerung, Gastronom:innen und dem Tourismusverband, sprich der gesamten Montafoner Gesellschaft, musste wieder bewusst gemacht werden, welchen kulturhistorischen Wert eine eigenständige Nutztierrasse wie diese für eine doch so kleine Region hat.
Für immer verloren
Das Aussterben dieser speziellen Rasse hätte Folgen. „Was einmal verloren ist, kommt nicht wieder! Das Verschwinden der Montafoner Steinschafe wäre aus kulturgeschichtlicher Sicht fatal“, erklärt Martin. „Diese Rasse sorgte über Jahrhunderte für das Überleben der sehr abgeschiedenen Bevölkerung hier. Sie war Hauptlieferant von Fleisch, Wolle und Fell, welche unabdingbar für das karge Bergbauernleben waren.“
Wie genetische Untersuchungen belegen, hat das Montafoner Steinschaf eine hohe genetische Distanz zu allen anderen bekannten Rassen im Alpenraum und gilt daher als besonders erhaltenswert. Und das nicht nur für die Bevölkerung hier, sondern auch für die Besucher:innen dieser wunderschönen Wander- und Wintersportregion. Denn die kleinen Schafe tragen eine Menge zur Offenhaltung der vielen Steilflächen hier bei, bis hin in den hochalpinen Raum. Die robusten Tiere verursachen dabei keine Trittschäden, beweiden Gebiete, in die Großvieh wie Kühe nicht hinkommen und verhindert dadurch die Verwachsung dieser alpinen Kulturlandschaft. Muren- und Lawinenabgängen sowie Hangrutschungen kann dadurch sogar Einhalt geboten werden. Die niedlichen Tiere schaffen das besser als jede Sense und erleichtern den Menschen hier die Erhaltung ihrer Landschaft.
Im Gegensatz zur konventionellen Viehzucht, in der Tiere meist nur einen Nutzen haben, nämlich die Fleischproduktion, hat die Zucht dieser alten Rasse also sehr viel mehr Vorteile. Montafoner Steinschafe sind zwar kleiner, aber viel robuster, genügsamer und gegen Krankheiten widerstandsfähiger als ihre Verwandten. Die glänzende Mischwolle zeichnet sich außerdem durch eine hervorragende Qualität aus.
Die Vergangenheit greifbar machen
Redet man im Montafon übers Thema Landschaft, fällt schnell auch das Wort „Maisäß“. Für Nicht-Ortsansässige unbekannt, weckt dieser Begriff in Montafoner:innen Gefühle von Heimat und Gemeinschaft. „Of a Maisäß goh“ hieß es hier nämlich früher, bevor die Familie im Frühjahr samt Vieh auf den Maisäß zog. So bezeichnet man die Mittelstation auf dem Weg zur Hochalpe, auf der man früher so lange blieb, bis diese schneefrei war.
Das Leben auf dem Maisäß bedeutete aber auch beschwerliche Arbeit: Es wurde gemäht, gemolken, gedüngt und gefüttert – ohne maschinelle Unterstützung. Jeder Grashalm war wertvoll und das Wohl des Viehs ging meist über das eigene. Die kleinen Holzhütten boten außerdem kaum genug Platz für alle. Dennoch war und ist der Maisäß ein Ort der Geselligkeit, in dem man Entschleunigung fand. Weg vom Alltag und viel Zeit für sich und die Lieben, oben am Berg, weit weg von den Lichtern der Stadt. Da diese Vorstellung in der heutigen Zeit besonders verführerisch klingt, holen moderne Hotel- und Gastrobetriebe mittlerweile den Maisäß-Gedanken in die Gegenwart.
Das Montafoner Steinschaf im Sternehotel
Im 4-Sterne-Hotel AMRAI Suites im idyllischen Ort Schruns beispielsweise, spiegelt sich das kulturelle Erbe der Region an allen Ecken wider. Materialien wie Fichtenholz, Wollfilz und Emaille erinnern an die Maisäßlandschaft – ohne auf Komfort zu verzichten, versteht sich. Man will Urlaubenden, die in die Region Montafon kommen, die einzigartige Kultur hier näherbringen, mit allen Annehmlichkeiten eines modernen Wellnesshotels. Schon die Holzfassade erinnert an die floralen Muster der Montafoner Tracht, Kupferelemente im Spa- und Restaurantbereich dienen als Reminiszenz an die lange Bergbautradition und der Name Amrai war hier früher ein beliebter Mädchenname. Allgegenwärtig ist deshalb auch das Montafoner Steinschaf, das dem Hotel als Maskottchen dient und einem wirklich überall begegnet. Von den „Schafgemach“ genannten Zimmern über die Lobby bis in die Wellnessbereiche entdeckt man Interieur-Elemente aus der weichen Wolle.
„Wenn man ein neues Hotel in einer Region wie dieser eröffnet, hat man auch eine gewisse Verantwortung den Traditionen gegenüber. Da war sich das ganze Team von Anfang an einig“, erzählt Hotelmanager Stefan Carstens. „Ein modernes Hotel, das die Besonderheiten seines Standortes völlig ignoriert, nützt niemanden. Man muss die Landschaft um sich herum ins Hotel holen – vom Eingangsbereich bis ins kleinste Zimmer“. Das nennt sich übrigens „schwarzes Schaf“ und ist regelmäßig ausgebucht, wie Stefan erzählt. Dass man ein charmantes Konzept in den Ort bringen und dabei auch noch auf das Artensterben in der Region aufmerksam machen kann, hält man hier für eine große Chance. Zugegeben, ein Tourismus-Trend, der sich ruhig durchsetzen darf.
Inmitten all dieser Geschichten grasen die Montafoner Steinschafe auf ihren Almen friedlich vor sich hin und wissen gar nicht, wie viel sie eigentlich für ihre Mitmenschen tun. Und hoffentlich bleibt das noch lange Zeit so.