Mitten in einem norwegischen Kiefernwald steht „The Plus“, eine Möbelproduktionsstätte, die so offen, nachhaltig und radikal anders gedacht ist, dass sie weltweit Aufsehen erregt. Doch was macht eine Fabrik tatsächlich nachhaltig – und was lässt sich daraus für die Zukunft lernen? Ein Blick auf Vestre: ein Unternehmen, das die Industrie leiser, grüner und sozialer machen will.
Wenn wir über Nachhaltigkeit sprechen, denken wir oft an Mode, Ernährung, Konsum oder Mobilität. Doch ein sehr alltäglicher Bereich bleibt häufig außen vor – die industrielle Produktion. Dabei verursacht sie einen erheblichen Teil der globalen Treibhausgasemissionen. Die Frage liegt also nahe: Wie nachhaltig kann eine Fabrik sein? Eine Antwort darauf liefert ein spannendes Beispiel aus Skandinavien. Im norwegischen Magnor, nahe der schwedischen Grenze, steht eine Fabrik, die vieles anders macht: The Plus, das neue Produktionsgebäude des Stadtmöbelherstellers Vestre, gilt als eine der umweltfreundlichsten Fabriken der Welt. Gebaut wurde sie in einem Waldstück, das bewusst erhalten und in das architektonische Konzept eingebunden wurde. Kein Zaun, keine Sperrzonen – stattdessen ein öffentlicher Ort mit Solarpaneelen, grünem Dach, Regenwassernutzung und einem angrenzenden Poesiepfad durch die Natur.

Von der Werkbank zum Klimavorbild
Vestre ist ein norwegisches Unternehmen mit langer Geschichte – seit 1947 stellt es Stadtmöbel her, die nicht nur praktisch, sondern auch sozial und ökologisch gedacht sind. Im Mittelpunkt steht die Idee, öffentliche Räume so zu gestalten, dass sie Begegnung ermöglichen – über soziale und kulturelle Grenzen hinweg. Vom New Yorker Times Square bis in den Revierpark Duisburg finden sich die Möbel inzwischen in unterschiedlichsten Städten. In den letzten Jahren ist das Thema Nachhaltigkeit für Vestre noch stärker in den Fokus gerückt, was in der internationalen Designszene hohe Wellen schlug: 2024 kam mit der von Emma Olbers entworfenen „Tellus“-Bank erstmals ein Produkt auf den Markt, das aus emissionsfrei hergestelltem Stahl gefertigt ist. Bei dem von der schwedischen Firma SSAB entwickelten Stahl werden im Produktionsverfahren Kohle und Koks durch fossilfreien Wasserstoff ersetzt. Das einzige Nebenprodukt dabei ist Wasser. Dadurch können die schädlichen CO2-Emissionen der energieintensiven Stahlproduktion größtenteils vermieden werden. Ein Meilenstein in Bezug auf die Klimawende. Denn die globale Stahlproduktion ist aktuell für 7 bis 9 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich. Im Laufe dieses Jahres soll das Material auch für bestehende Produkte eingesetzt werden, bis 2030 dann für die gesamte Kollektion. Neben dem Automobilhersteller Volvo ist Vestre damit das erste Unternehmen, das fossilfreien Stahl in der industriellen Fertigung nutzt.

Zwischen Industrie und ökologischem Umbau
Wie können wir den urbanen Raum grüner und inklusiver gestalten? Eine Frage, die sich heutzutage sowohl Stadtplaner:innen als auch Möbelhersteller:innen stellen. Vestre sieht die Lösung darin, unseren Lebensraum mit der Tier- und Pflanzenwelt zu teilen. Zum Schutz der Artenvielfalt entwickelte man beispielsweise modulare Stadtmöbel mit integrierten Pflanzmodulen und Nisthilfen, welche die Biodiversität fördern sollen. Initiativen wie diese kommen aber nicht von ungefähr, sie basieren auf der Ursprungsidee des Seemanns und Mechanikers Johannes Vestre, der das Unternehmen vor bald 80 Jahren gründete. Bis heute ist es im Besitz der Familie Vestre und CEO Bjørn Fjellstad arbeitet eng mit Mitgliedern der dritten Generation zusammen. In den Folgejahren nach der Gründung brachte Vestre eine Vielzahl von Stadtmöbeln auf den Markt, darunter die Bank “Hvilan” und der Abfallbehälter “City”, die heute noch im Sortiment sind. Das aktuelle Produktportfolio umfasst neben Sitzmöbeln wie Bänke, Stühle und Tischbänke auch Funktionsmöbel, darunter Fahrradständer, Abfalleimer, Parklets und Pflanzkästen. Aber nun zurück in den Norwegischen Wald.

Das große Plus im Grünen
The Plus gruppiert die vier Produktionsbereiche – Pulverbeschichtung und Holzverarbeitung, Montage, Lager und Auslieferung – um einen zentralen Innenhof. So entstand die vom renommierten Architekturbüro Bjarke Ingels Group (BIG) entworfene Plus-Form. Die 2022 eröffnete Fabrik wurde auch prompt mit dem Nachhaltigkeitssiegel BREEAM „Outstanding“ ausgezeichnet. Das strenge Zertifikat hat bislang nur ein Prozent aller neuen Industriegebäude weltweit erreicht. Als Begründung für diese Zertifizierung kann Vestre einfach Zahlen für sich sprechen lassen: The Plus verbraucht rund 60 % weniger Energie und verursacht knapp 50 % weniger Emissionen als vergleichbare Anlagen. Auch Besucher:innen werden mit offenen Armen empfangen und mehrmals die Woche durch das außergewöhnliche Gebäude geführt. Zu verstecken hat man schließlich nichts.


Ein Blick hinter die Kulissen – unter anderem dokumentiert im kürzlich erschienenen Bildband „Making The Plus“ – zeigt, wie vielschichtig so eine nachhaltige Produktion sein kann: Die Anlage nutzt künstliche Intelligenz, Robotik, eine CO₂-neutrale Energieversorgung und Materialien wie fossilfreien Stahl und FSC-zertifiziertes Holz aus regionalen Wäldern. Gleichzeitig spart sie keine Kosten an falschen Stellen, fördert z.B. lokale Arbeitsplätze und verzichtet bewusst auf Auslagerung in Niedriglohnländer. Aktuell kontrolliert das Unternehmen bereits mehr als 90 % seiner Wertschöpfungskette und verwendet hauptsächlich Materialien aus der Region rund um den Firmensitz in Magnor an der norwegisch-schwedischen Grenze. Das Unternehmen propagiert außerdem einen Ansatz, der in Zusammenhang mit Nachhaltigkeit absolut immer genannt wird: Langlebigkeit statt Wegwerfware. Die hergestellten Stadtmöbel sind für den jahrzehntelangen Einsatz konzipiert und können vollständig recycelt werden, sollte ihre Zeit irgendwann doch gekommen sein.

Fabrik der Zukunft oder Ausnahme?
The Plus steht nicht nur für ein einzelnes Unternehmen, sondern für eine größere Bewegung: die Suche nach einer zukunftsfähigen Industrie, die Wirtschaftlichkeit, Umweltbewusstsein und soziale Verantwortung vereint. Der Weg dorthin ist komplex und verlangt Umdenken – in der Architektur, der Lieferkette, den Produktionsmethoden und letztlich auch im Konsumverhalten von uns allen.
Eine Fabrik im Wald, die mehr Energie erzeugen könnte als sie verbraucht. Möbel, die Generationen überdauern sollen. Produktion als Teil des Gemeinwohls, nicht als Gegenspieler. Klingt utopisch – oder einfach nur logisch? Was wäre, wenn sich jedes Unternehmen verpflichtend fragen müsste: Was hinterlassen wir – architektonisch, ökologisch, gesellschaftlich? Projekte wie The Plus zeigen, dass nachhaltige Industrie kein abstrakter Zukunftsbegriff ist, sondern konkrete Gegenwart sein kann. Vielleicht ist das keine Blaupause für alle, aber allemal ein Beweis dafür, dass ein anderes, ökologischeres Denken auch wirtschaftlich erfolgreich sein kann.


Lesetipp:
Making The Plus (Hatje Cantz Verlag) dokumentiert den Bau dieser besonderen Fabrik und liefert spannende Einblicke in eine neue Generation nachhaltiger Industriearchitektur.
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