Nach der ayurvedischen Lehre besteht die Welt aus 5 Elementen, die alles bestimmen. Feuer und Wasser, Erde und Luft sowie der Raum, entscheiden über das Wesen der Pflanzen, Tiere und Menschen. Der Mensch ist dabei ein Mikrokosmos, der alles in sich vereint. Man geht davon aus, dass jeder Mensch von Geburt an unterschiedlich stark durch diese Elemente geprägt ist und individuelle körperliche und spirituelle Stärken und Schwächen hat. Die drei Doshas Vata, Pitta und Kapha sind in der Ayurveda-Lehre von zentraler Bedeutung, ihr Gleichgewicht ist entscheidend für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden. Prakriti nennt man die Dosha-Konstitution, die man bereits bei der Geburt mitbekommt, Vikriti den aktuellen Zustand unserer Lebensenergie. Ein Ungleichgewicht der beiden macht sich bemerkbar – vom kleinen Unwohlsein bis zur ausgewachsenen körperlichen oder seelischen Krankheit. Um gegenlenken zu können, muss man also erst einmal wissen, wie es um den momentanen Zustand steht.
Ein Selbstversuch
Claudia Gnant empfängt mich mit einem Strahlen im Gesicht. Sie ist eine dieser Personen, bei denen man sich sofort gut aufgehoben fühlt. Das ist auch gut so, denn gleich lernen wir uns ziemlich gut kennen. In Claudias Ayurveda-Zentrum in Wien, Ayurvienna, können Erstgespräche, präventive Behandlungen, Kuren und Retreats, aber auch unterstützende Maßnahmen wie Massagen gebucht werden. Zweimal im Jahr vorbeischneien und sich eine Ölmassage gönnen, ergibt hier aber wenig Sinn. Denn Ayurveda wirkt am besten, wenn man es nachhaltig in den Alltag integriert. „Es ist kein einmaliges Erlebnis, sondern eine ganzheitliche Lebensumstellung“, sagt Claudia. Lebensumstellung – das klingt anstrengend, denke ich laut, woraufhin die Expertin beruhigt: „Das müssen keine enormen Veränderungen sein, oft helfen schon Kleinigkeiten. Das Weglassen gewisser Lebensmittel oder Zubereitungsarten, Kräuter sowie Öle integrieren und ein paar Meditationsübungen die Woche. Nicht den gesamten Ablauf völlig umkrempeln, sondern stärken, was bereits ist. Wenn es nicht zum Alltag passt, oder nicht familienkonform ist, zieht man es nicht durch.“
Sensibel und kopflastig
Nach diesen Worten liegen auch schon drei Finger auf meinem Handgelenk. Es dauert kaum eine Minute, da hat Claudia auch schon einen ersten Eindruck meines derzeitigen Dosha-Zustandes. Nach dem Abtasten des Pulses und einem Blick auf Zunge und Haut, beginnt der ausführliche Fragebogen. Fragen wie “Warst du ein aufgewecktes oder ruhiges Kind?”, “Möchtest du in Auseinandersetzungen immer Recht behalten?” bis hin zu “Welche Konsistenz hat dein Stuhl normalerweise?”, zeichnen ein recht intimes Bild einer Person. Es ist eine Momentaufnahme meiner Doshas, in der Vatha und Pitta vorherrschen und das ziemlich eindeutig: hasst die Hitze, sensibel, kopflastig und ständig kalte Hände und Füße – darin erkenne ich mich wieder. Mein Vatha soll also gesenkt und meine Verdauung gestärkt werden. Ich bekomme Tipps für Routinen und einen Ernährungsplan mit Rezeptideen, der auf mein derzeitiges Befinden abgestimmt ist. Denn der Leitsatz im Ayurveda lautet: Du bist, was du verdaust. Es geht nun also darum, das „Agni“ genannte Verdauungsfeuer am Brennen zu halten – und das bietet in meinem Fall schon ein paar Überraschungen. „Salat nur, wenn es unbedingt sein muss und nur zu Mittag“, warnt Claudia und lächelt ob meines überraschten Gesichtsausdrucks. Sie meint dabei allerdings auch, dass ich unbedingt auf rohes Obst und Gemüse verzichten soll. Gekochte Mahlzeiten, so die Expertin, sind besser für meine Verdauung und kräftigen sie. Ab jetzt heißt es also, meinen Tagesablauf und vor allem meine Ernährung, etwas achtsamer zu gestalten. Denn Ayurveda, so merke ich, kann auch im stressigsten Alltag integriert werden, wenn man nur einige Eckpfeiler beachtet.
So integrierst Du Ayurveda easy im Alltag
Ayurveda im Alltag umzusetzen, erfordert keine drastischen Veränderungen. Es geht vielmehr darum, bewusstere Entscheidungen in Bezug auf Ernährung, Bewegung und Lebensstil zu treffen.
1. Mit einer Dosha-Analyse starten
Ayurveda startet immer mit einer Analyse von Prakriti und Vikriti. Erst dann können Maßnahmen gesetzt werden, um die Doshas wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Liegen keine großen gesundheitlichen Probleme vor, ist eine Kur kein Muss und kann durch kleine Maßnahmen im Alltag ersetzt werden.
2. Routinen in den Alltag integrieren
Eine feste tägliche Routine kann helfen, Doshas wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Der Tag sollte mit einer möglichst entspannten Morgenroutine starten. Frische Luft tanken, Ölziehen, eine Tasse Ingwertee oder Dosha-gerechtes Frühstück, wie beispielsweise warmer Porridge mit Kurkuma, Zimt und gebratenem Obst essen. Festgelegte Zeiten für Mittag- und Abendessen und entspannende Tätigkeiten wie Yoga oder Meditation sowie ein regelmäßiges Schlafmuster tragen dazu bei, Stress abzubauen und Klarheit zu schaffen.
3. Die Kraft von Kräutern und Gewürzen nutzen
Die ayurvedische Medizin verwendet eine Vielzahl von Kräutern und natürlichen Heilmitteln, um Gesundheitsprobleme zu behandeln und das Wohlbefinden zu steigern. Ayurveda-Praktiker*innen informieren und helfen dabei, die ideale Kombination aus beiden in Deinen Alltag zu integrieren. Wann immer es geht, sollen Gerichte möglichst alle Geschmacksrichtungen vereinen. „Mischt man sich ein leckeres Chutney mit Gewürzen, Rosinen und Kräutern, hat man schon mal die perfekte Basis, die sich locker zu allen Mahlzeiten kombinieren lässt“, gibt Claudia noch als Tipp mit.
4. Eine Kur ist kein Allheilmittel
Die Panchakarma-Kur ist das Herzstück des Ayurveda und ein tiefgründiger Reinigungsprozess. Viele pilgern dafür in eigene Kliniken nach Indien. Authentische Kuren kann man aber auch in Mitteleuropa buchen. Ayurveda-Praktikerin Claudia warnt allerdings davor, das Ganze als Wellness-Erlebnis zu sehen, denn richtige Panchakarma-Kuren können an die Substanz gehen. Und sie sind auch kein Allheilmittel, wenn man seinen Alltag danach wie gewohnt weiterführt: „Das ganze Jahr über seinen Körper schlecht behandeln, dann zwei Wochen Ayurveda-Retreat und alles ist gut? Das ist leider nicht sinnführend“. Auch vor einer Kur seien gewisse Maßnahmen sinnvoll, wie beispielsweise das Verdauungsfeuer mit Heilpflanzen zu aktivieren. „Denn auch, wenn wir das Öl bei Massagen nur auf die Haut auftragen, muss der Körper es verstoffwechseln. Ist die Verdauung nicht fit, kann das Symptome sogar verschlimmern“, erklärt Claudia. Das ist es auch, was Ayurveda-Angebote in Wellnesshotels nicht besonders sinnvoll macht, so die Expertin. Denn diese verzichten meist auf eine genaue Dosha-Analyse und arbeiten mit Öl, das nicht auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmt wurde.
5. Gewohnheiten hinterfragen
Man merkt doch selbst am besten, was dem Körper guttut, oder? Stimmt, doch manchmal ist es nicht so einfach. „Eine Dosha-Störung verführt leider oft genau zu den Gewohnheiten, die dafür nicht zuträglich sind“, sagt Expertin Claudia. Das vorherrschende Dosha will quasi an der Macht bleiben, was sich in ungesunden Gelüsten manifestiert. Das, was dem Körper wirklich guttut, spürt man erst, wenn alle Doshas im Einklang sind.
6. Ayurveda und Schulmedizin kombinieren
Nicht-westliche Lehren wie Ayurveda werden nur allzu oft in den Esoterik-Topf geworfen. Dabei ist gerade diese uralte indische Lehre bei genauerer Betrachtung im Einklang mit der Natur und deshalb perfekt mit Schulmedizin vereinbar. „Es gibt diese Hardcore-Alternativmediziner*innen, die neben ihrer Religion keine anderen anerkennen. Aber ich bin Pharmazeutin, meine Kollegin Schulmedizinerin und beide sind wir Ayurvedamedizinerinnen. Wir wollen das Beste aus beiden Welten vereinen“, gibt Claudia Gnant zu verstehen. Ayurveda kann Nebenwirkungen von z.B. Chemotherapien lindern bzw. lehren, mit ihnen umzugehen. Und für viele ist es eine große Hilfe bei undefinierbaren Beschwerden, für die Schulmedizin einfach keine Gründe hat. „Ich fühle mich unwohl, irgendetwas stimmt nicht – da sind klassische Ärzt*innen schnell am Rande ihrer Expertise, was Behandlung angeht. Wir suchen da eben in den Doshas und können gegensteuern“, erklärt die Expertin.
Du willst Ayurveda auch in Deinen Alltag integrieren oder nur mal reinschnuppern? Ayurvienna bietet regelmäßig Retreats an und begleitet beim sanften Einstieg. Auch lohnenswert: Das jährliche Ayurveda Festival Deutschland, das Expert*innen, Anfänger*innen und Interessierte gleichermaßen anspricht.